Das Interview führte die IPG-Redaktion.
Etwas mehr als ein Viertel aller Wählerinnen und Wähler in Italien haben fast acht Jahrzehnte nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine neofaschistische Partei gewählt. Ihre Vorsitzende Giorgia Meloni hat gute Aussichten, erste Ministerpräsidentin des Landes zu werden. Wie ist die Stimmung nach der Wahl?
Es ist das eingetreten, was die Meinungsumfragen sehr präzise vorhergesagt hatten. Womit man allerdings nicht gerechnet hatte, war die geringe Wahlbeteiligung. Fast 35 Prozent der Wählerinnen und Wähler sind nicht wählen gegangen. Das zeigt, dass es mit Blick auf die politische Situation eine sehr große Ernüchterung im Lande gibt. Man traut eigentlich keiner Partei überhaupt noch etwas zu, glaubt nicht mehr an Veränderung und Wandel. Stattdessen setzt man immer auf den nächsten rising star: Bei der letzten Parlamentswahl war es die Fünfsternebewegung gewesen, bei den Europawahlen waren es Matteo Salvini und seine Lega und jetzt ist es eben Meloni, die als Hoffnungsträgerin gewählt worden ist.
Das Parteilogo der Fratelli d’Italia zeigt die Trikolore-Flamme, die den Geist Benito Mussolinis symbolisiert, Meloni nennt den nationalen Feiertag am 25. April in Gedenken an die Befreiung Italiens von den Nazis und den Faschisten spalterisch. Wie stark ist das faschistische Element in der Partei?
Für die Parteimitglieder ist es ein Nährgrund. Die Vorgängerpartei Movimento Sociale Italiano, aus der die Fratelli d’Italia hervorgegangen sind, wurde unmittelbar nach der Gründung der Republik 1946 als Nachfolgepartei der faschistischen Partei gegründet – deshalb werden die Fratelli d’Italia auch oft als postfaschistische Partei bezeichnet. Das ist ein Identifikations- und Markenkern der Partei. Was allerdings nicht heißt, dass alle, die jetzt Fratelli gewählt haben, sie auch deshalb gewählt haben. Diese Wahl war eine Protestwahl, die Wählerinnen und Wähler wollten etwas anderes ausprobieren. Nicht alle, die die Partei gewählt haben, sind als Postfaschisten zu bezeichnen – so wie nicht alle, die die AfD gewählt haben, per se ein geschlossenes rechtsextremes Weltbild haben. Aber für die Parteimitglieder ist es ein Identifikationskern, in der Kontinuität der postfaschistischen Partei Movimento Sociale Italiano zu stehen. Das ist der rechte Sumpf, in dem diese Partei wurzelt und aus dem auch Meloni kommt. Das kann man auch nicht einfach mit ein paar proeuropäischen und geschichtsvergessenen Äußerungen im Wahlkampf vertuschen.
Meloni will ein Europa der souveränen Nationalstaaten.
Meloni möchte als gemäßigte konservative Politikerin gesehen werden, beschimpft aber die EU, Banken und Migranten. Was ist von ihr zu erwarten?
Meloni hat im Wahlkampf versucht, sich etwas in der Tonalität zu mäßigen. Seit es die Partei gibt, waren die Fratelli d’Italia immer eine sehr antieuropäische Partei, die sehr stark mit Vorurteilen gegen und mit Beschimpfungen der EU Stimmen zu gewinnen versucht und einen sehr stark antieuropäischen Diskurs gefahren hat. Die Angriffe auf die EU wurden im Wahlkampf schlagartig eingestellt, als Meloni sich im europäischen Umfeld verorten musste. Sie hat sich aber sicher nicht in eine Pro-Europäerin gewandelt, sondern das war teilweise Taktik, teilweise Einsicht in die Notwendigkeit. In ihrer Überzeugung bleibt sie europaskeptisch, das wird die EU auch zu spüren bekommen. Zwar möchte sie Italien nicht mehr aus der EU und dem Euro führen – das könnte sich Italien nicht leisten, das weiß sie. Aber sie möchte ein anderes Europa: ein Europa nach Vorstellung von Victor Orbán, von Jarosław Kaczyński, von Marine Le Pen oder der spanischen Partei Vox. Meloni will ein Europa ohne vertiefte Integration, ein Europa der souveränen Nationalstaaten, wo nationales Recht über europäischem Recht steht – und darauf wird sie hinarbeiten.
Auch ein souveräner Nationalstaat Italien wäre auf die Mittel des Corona-Wiederaufbaufonds der EU angewiesen. Meloni hat angekündigt, dieses Paket nochmal aufschnüren und neu verhandeln zu wollen. Wie schnell wird es zu einem Konflikt zwischen Brüssel und Rom kommen?
Was das Wahlkampfgetöse von Meloni angeht, den National Recovery and Resilience Plan aus EU-Mitteln neu zu verhandeln, wird sie schnell zurückziehen müssen. Um an die Gelder zu kommen, auf die Italien angewiesen ist, gibt es klare Richtlinien und Meilensteine, die eingehalten werden müssen. Aber entscheidender ist, dass alle neuen Finanzverhandlungen genauso wie alle Verhandlungen über die Weiterentwicklung der EU, die anstehen, schwierig werden. Vor zwei Wochen hat das EU-Parlament Ungarn in einer Erklärung den Status einer Demokratie abgesprochen. Wenig überraschend haben sowohl die Fratelli d’Italia als auch die Lega von Salvini dagegen gestimmt. Das zeigt Melonis Europabild und welche Vorstellung sie von der EU hat.
Zusammen mit Berlusconis Forza Italia, die 8,1 Prozent der Stimmen bekommen hat, und Salvinis Lega mit 8,8 Prozent hat der rechte Block zwar nur eine knappe Mehrheit der Stimmen erhalten, aber durch das Wahlsystem eine stabile Mehrheit im Parlament. Wie einig sind sich die drei Parteien?
Der rechte Block trat – im Gegensatz zu den Mitte-links-Parteien, die sich schon vor der Wahl zerlegt hatten – geeint an und konnte so klar die absolute Mehrheit erzielen. Aber es gibt viele Spalten und Haarrisse innerhalb des rechten Blocks und man kann hoffen, dass sehr schnell zentrifugale Kräfte wirken werden. Zum einen gibt es sehr starke, grundlegende Divergenzen in der Außenpolitik, etwa mit Blick auf die Russlandpolitik. Meloni ist eine sehr starke Befürworterin der strikten Sanktionen gegen Russland und von weiteren Waffenlieferungen an die Ukraine, während Berlusconi und Salvini hier sehr irrlichternd unterwegs sind und für die Aufhebung der Sanktionen gegen Russland sind. Aber auch in der Innenpolitik gibt es starke Divergenzen. So möchte Salvini zur Entlastung der Bürgerinnen und Bürger mit Blick auf die gestiegenen Energiepreise einen Sonderhaushalt in Höhe von 40 Milliarden Euro auflegen, Meloni hat sich dagegen ausgesprochen. Auch bei anderen wirtschaftspolitischen Fragen gibt es starke Divergenzen.
Es gibt viele Spalten und Haarrisse innerhalb des rechten Blocks.
Dazu besteht auch eine schwierige Machtbalance zwischen diesen drei doch ungleichen Partnern. Lega und Forza Italia kommen zusammen auf gut 17 Prozent der Stimmen, Fratelli d’Italia auf 24 Prozent. Und das wird wahrscheinlich nicht dazu führen, dass Salvini und Berlusconi handzahm werden, sondern viel stärker ihre Interessen in dieser Koalition durchzusetzen versuchen. Meloni steht eine sehr schwierige Regierungsbildung und dann ein schwieriges Regieren bevor.
Nochmal zu Russland: Droht eine neue italienische Regierung die Einigkeit der EU zu sprengen, etwa zusammen mit Ungarn?
Bislang hat Meloni sich als sehr durchsetzungsstark innerhalb des rechten Lagers bewiesen. Auf Basis dessen kann man hoffen, dass ihr in diesem Punkt strikter transatlantischer Kurs, also gegen Russland und für Waffenlieferungen an die Ukraine, sich auch innerhalb dieser neuen Koalition durchsetzen wird. Aber das ist ein Blick in die Glaskugel. Zumal die angesprochene Verbindung zu Ungarn sehr stark ist und sich Orbán gerade erst für die Beendigung der Sanktionen und gegen Waffenlieferungen ausgesprochen hat. Die Position zu Russland wird von den Parteien austariert werden müssen. Insbesondere Berlusconi ist im Wahlkampf mit sehr irritierenden Äußerungen aufgefallen, etwa der Behauptung, Putin sei zur Invasion gedrängt worden und er habe ja nur die Regierung Selenskyi durch ein paar „ordentliche Leute“ ersetzen wollen. Es ist also nicht ausgemacht, dass Italien auf transatlantischem Kurs bleibt.
Lassen Sie uns noch einen Blick auf die Wahlverlierer werfen. Die Partito Democratico hat nicht einmal 20 Prozent der Stimmen erhalten. Die Fünfsternebewegung ist zwar mit 15 Prozent besser abgeschnitten als erwartet, aber trotzdem wurde ihr Wahlergebnis mehr als halbiert. Wie geht es weiter für diese Parteien?
Für die PD ist es ein sehr ernüchterndes Ergebnis. Als der Wahlkampf begann, wollte sie zumindest stärkste Partei werden. Dem Parteivorsitzenden Enrico Letta ist es nicht gelungen, ein Mitte-links-Parteienbündnis zu schmieden – nicht zuletzt auch deshalb nicht, weil einige der beteiligten Parteichefs ein übergroßes Ego haben. Letta hat nach dem ernüchternden Wahlergebnis bereits angekündigt, beim anstehenden Parteitag im März 2023 nicht mehr für den Vorsitz zu kandidieren.
Die Fünf Sterne haben je nach Perspektive gut oder schlecht abgeschnitten. Verglichen mit der letzten Parlamentswahl, bei der sie noch auf 33 Prozent der Stimmen gekommen waren, ist es natürlich schlecht. Aber da die Partei im Juni weitestgehend abgeschrieben worden war und in Umfragen bei 10 Prozent lag, muss man sagen, dass Giuseppe Conte ein kleines Revival gelungen ist.
Für die PD macht es das noch schwieriger, weil die Fünfsternebewegung sich unter Conte zunehmend als linke Alternative zur PD profiliert hat. Die PD ist perspektivisch eingeklemmt zwischen einer linkspopulistischen Fünfsternebewegung auf der einen Seite und dem Parteienbündis Azione/Italia Viva auf der anderen Seite, den mehr in Richtung moderate Mitte zielenden Parteien des ehemaligen Ministerpräsidenten Matteo Renzi und Carlo Calendas, das immerhin auch fast 8 Prozent der Stimmen erhalten hat. Die PD als große Wahlverliererin muss sich unter erschwerten Bedingungen neu aufstellen.