Interview von Daniel Kopp
Seit dem 20. Juni demonstrieren jeden Abend Tausende vor dem Parlament in der georgischen Hauptstadt Tiflis gegen Russlands Georgien-Politik. Wie kam es zu den Protesten?
Auslöser für die Proteste war eine Tagung der „Interparlamentarischen Versammlung der Orthodoxie“, die vom 19. bis zum 22. Juni in Tbilissi stattfinden sollte. Die 1993 auf Initiative Griechenlands gegründete Organisation bringt jährlich christlich-orthodoxe Parlamentsabgeordnete aus aller Welt zusammen. Als am 20. Juni der Präsident der Versammlung, der russische Duma-Abgeordnete Sergej Gawrilow, im georgischen Parlament auf dem Stuhl des Parlamentspräsidenten Platz nahm und die Versammlung auf Russisch ansprach, brach ein Sturm der Entrüstung los. Hochrangige Vertreter des „Georgischen Traums“ erkannten – allerdings zu spät – die Brisanz der Bilder und verurteilten den vermeintlichen „Protokollfehler“.
Russland wird in Georgien mehrheitlich als feindliche Besatzungsmacht wahrgenommen, ohne die die separatistischen Regime in Abchasien und Südossetien nicht lebensfähig seien. Oppositionsabgeordnete nutzten die Chance, besetzten den Plenarsaal und riefen für den Abend zu einer ersten Kundgebung auf. Die Tagung wurde abgebrochen. Gawrilow, Mitglied der Kommunistischen Partei Russlands, musste unter Polizeischutz aus seinem Hotel eskortiert werden und verließ noch am selben Tag Georgien.
Zur Empörung trug das in georgischen Medien weit verbreitete und von Gawrilow dementierte Gerücht bei, dieser habe Anfang der 1990er Jahre auf Seiten der Separatisten in Abchasien gekämpft. Am nächsten Tag übernahm der Parlamentspräsident die politische Verantwortung und trat zurück. Zu seinem Nachfolger wurde der bisherige Mehrheitsführer Artschil Talakwadse gewählt.
Welche Konsequenzen hatten die Proteste bisher?
Die gewalttätige Eskalation der Proteste in der ersten Nacht mit über 200 Verletzten hat bereits zum Rücktritt des Parlamentspräsidenten Irakli Kobachidse am 21. Juni geführt. Am 24. Juni gab der Parteivorsitzende des „Georgischen Traums“, Multi-Milliardär Bidsina Iwanischwili, bekannt, dass die für den Herbst 2020 geplanten Parlamentswahlen nach reinem Verhältniswahlrecht durchgeführt werden. Das bisherige Grabenwahlsystem – die Hälfte der Abgeordneten wird proportional nach Listen, die andere Hälfte direkt gewählt – hatte 2016 dazu geführt, dass der „Georgische Traum“ mit unter 50 Prozent der Stimmen drei Viertel der Mandate erhielt.
Das jetzige Zugeständnis könnte sich jedoch als Pyrrhussieg erweisen, da Iwanischwili angekündigt hat, keine Sperrklausel anzuwenden. Es droht somit eine Zersplitterung des Parlaments in zahlreiche Kleinstparteien. Ob eine solche neue Unübersichtlichkeit einen politischen Kulturwandel bewirken kann, bleibt fraglich. Bislang ist Georgiens Politik von konfrontativem Freund-Feind-Denken bestimmt, in dem politischer Wandel nur durch Revolutionen möglich scheint. Die Entwicklung und Umsetzung eines evolutionären, durch die Bereitschaft zum Kompromiss geprägten Politikverständnis bleibt weiterhin die zentrale Aufgabe der politischen Eliten.
Neben der Reform des Wahlrechts fordern die Protestierenden den Rücktritt von Innenminister Giorgi Gacharia und die Freilassung von derzeit noch rund 120 Personen, die in der Nacht von Donnerstag zu Freitag festgenommen worden waren. Die Proteste sollen jeden Abend bis zur Erfüllung der Forderungen fortgesetzt werden.
Welche Auswirkungen hat die Krise auf die Beziehungen zwischen Georgien und Russland?
Die Krise hat eine rapide Verschlechterung des georgisch-russischen Verhältnisses bewirkt: Infolge des Augustkrieges und der Anerkennung der „Unabhängigkeit“ von Abchasien und Südossetien durch Russland brach Georgien die diplomatischen Beziehungen 2008 ab. Seit 2012 setzte die Regierungspartei „Georgischer Traum“ eine vorsichtige Normalisierungspolitik um, deren Erfolge nun in Frage stehen. Wegen der vermeintlichen Gefährdung russischer Staatsbürger untersagt Russland ab dem 8. Juli alle Direktflüge nach Georgien; der Kreml empfiehlt russischen Reiseveranstaltern zudem, ihre Touristen aus Georgien zurückzuholen. Dazu besteht objektiv gar kein Anlass; die Sicherheitslage im Land ist unverändert gut.
Offenkundig kann Russlands Führung die öffentliche Demütigung eines ihrer nachrangigen Repräsentanten nicht unbeantwortet lassen – Gawrilow wurde etwa noch im Parlament mit Wasser begossen und von Demonstranten beschimpft. Die nun geplanten Strafmaßnahmen – zu denen noch ein Wein-Importstopp kommen könnte – sind unverhältnismäßig und könnten Georgiens Wirtschaftswachstum bremsen: Das Land verzeichnete 2018 über 7,2 Millionen internationale Besucher, davon kamen 1,4 Millionen aus Russland. Der Beitrag des Tourismus zum Bruttoinlandsprodukt wird auf knapp zehn Prozent geschätzt. Während Georgien von den wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland profitiert, haben diese nicht zu einer positiveren Wahrnehmung von Russland in der georgischen Gesellschaft beigetragen. Die Gawrilow-Affäre zeigt daher auch, dass für eine weitere Annäherung die gesellschaftliche Basis fehlt, solange Russlands Unterstützung der Separatisten-Gebiete andauert.
Was bedeutet die Krise für die georgische Innenpolitik?
Der „Georgische Traum“ ist schwer angeschlagen. Die Partei hatte sich vor dem 20. Juni immer wieder darauf berufen, anders als die Vorgänger-Regierung von Ex-Präsident Michail Saakaschwili nicht gewaltsam gegen Demonstrationen vorzugehen. Noch im Präsidentschaftswahlkampf 2018 hatte der „Georgische Traum“ mit Schock-Bildern blutender Demonstranten vor dem Oppositionskandidaten gewarnt. Viele Menschen sind der Regierung überdrüssig, sehen allerdings auch keine Alternativen: Neue Parteien, die sich gerade in Vorbereitung auf die Wahlen 2020 gründen, werden von altbekannten Gesichtern dominiert. Auf der Demonstration am 21. Juni ließ man Repräsentanten der Opposition nicht zu Wort kommen – die Proteste seien, so die Organisatoren, unpolitisch. Das „Politische“ ist in Georgien diskreditiert, eine Folge des Verhaltens der Eliten in den letzten 30 Jahren. Wie aber eine führerlose Protestbewegung in einer auf Personen fixierten Politik Veränderungen bewirken sollen, bleibt fraglich. Die Mobilisierung geht bereits spürbar zurück, ein Abflauen der Proteste in den nächsten Tagen ist wahrscheinlich.