Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.
Premierminister Kyriakos Mitsotakis hat auch die Neuwahl haushoch gewonnen und wird mit seiner konservativen Nea Dimokratia (ND) nun vier weitere Jahre allein regieren können. Was bedeutet das für Griechenland?
So lange wählen zu lassen, bis das Ergebnis stimmt – das kann man wohl als pragmatischen Umgang mit demokratischen Spielregeln bezeichnen. Diese laxe Haltung gegenüber demokratischen Grundregeln hatte Mitsotakis auch in der Regierungszeit an den Tag gelegt und so der Qualität der griechischen Demokratie zunehmend geschadet. Es liegt nahe, dass dieser Trend in den nächsten Jahren fortgeschrieben wird. So werden die nächsten vier Jahre in Griechenland sicherlich keine guten Zeiten für kritischen Journalismus. Die Regierung von Mitsotakis hat wiederholt gezeigt, dass sie diesen nicht wertschätzt, sondern massiv dagegen vorgeht: Sei es durch herabwürdigende Rhetorik gegenüber kritischen Journalisten, Klagen gegen diese, um Berichterstattung zu unterbinden, oder die Herausgabe von sogenannten „White Papers“, um Meinungskorridore für die Presse vorzugeben. Mittlerweile ist Griechenland im Pressefreiheitsindex von Reporter ohne Grenzen auf den letzten Platz unter den europäischen Ländern abgerutscht.
Auch eine Aufklärung des Abhörskandals wird es wohl nicht geben: Die konservative Mehrheit im Parlament hatte die Aufklärung der Affäre im eigens eingerichteten parlamentarischen Untersuchungsausschuss zielgerichtet torpediert. Die Bemühung öffentlicher Transparenzbehörden, Licht ins Dunkel zu bringen, behinderte sie ebenso wie die entsprechende Arbeit der Justizbehörden. Auch die Wählerinnen und Wähler haben – wie wir nun wissen – die Regierung nicht in die Schranken gewiesen.
Vier weitere Jahre Migrationspolitik á la Mitsotakis wird zudem weitere Pushbacks an der griechischen Grenze bedeuten. Zwar gehen politische Entscheider in Brüssel und Berlin davon aus, dass es wegen der neuen EU-Grenzverfahren keine Pushbacks mehr geben wird. Doch bereits seit 2020 gibt es keine Überstellung von Migranten aus Griechenland in die Türkei mehr. Daher wird es nach wie vor das Ziel sein, möglichst wenige Menschen mit laufenden Verfahren in Griechenland zu haben. Die Regierung wird also weiterhin mit Hilfe von Pushbacks versuchen, die Zahl der Ankünfte zu verringern.
Wie ist der Einzug von gleich drei rechtsextremen Kleinparteien ins griechische Parlament zu bewerten?
Eine Überraschung ist der Einzug der rechtsextremen Partei „Spartiaten“ mit 4,6 Prozent. Sie wird offen von Ilias Kassidiaris unterstützt, dem derzeit inhaftierten ehemaligen Pressesprecher der neonazistischen „Goldenen Morgenröte“. Mit dem Einzug von zwei weiteren Parteien des rechten Randes – „Griechische Lösung“ und NIKI – konnte die griechische Rechtsextreme ihre Präsenz von vier Prozent 2019 auf über 13 Prozent steigern. Damit folgt Griechenland dem europäischen Trend eines Wachstums rechtsextremer Parteien. Mitsotakis’ Kalkül, die Wähler am rechten Rand zu integrieren, ist damit nicht aufgegangen. Eine nochmalige Verschiebung der politischen Debatte nach rechts, um weitere Verluste bei ND zu verhindern, ist daher zu erwarten.
Die Zersplitterung des rechten Spektrums in drei Parteien spiegelt die ideologische Bandbreite dieses politischen Raumes wider: Sowohl NIKI, als auch „Griechische Lösung“ halten die traditionellen gesellschaftlichen Werte im Sinne der griechisch-orthodoxen Kirche hoch. Die „Griechische Lösung“ gibt sich zudem als Vaterlandspartei. NIKI konnte als absoluter Newcomer und selbsternannte „Antisystem-Partei“ vor allem Protestwähler mobilisieren. Die „Spartiaten“-Partei fährt dagegen einen harten nationalistischen Kurs nach dem Motto „Griechenland den Griechen“ und träumt enigmatisch von einer „neuen parlamentarischen Ethik“.
Wie nach der Wahl im Mai spielt Alexis Tsipras auch diesmal auf Zeit.
Wie sieht es im linken Spektrum aus? SYRIZA musste erneut eine herbe Schlappe einstecken. Bedeutet dies womöglich das politische Ende von Alexis Tsipras?
Wie nach der Wahl im Mai spielt Alexis Tsipras auch diesmal auf Zeit. Statt seinen Rücktritt bekannt zu geben, wie viele Beobachter erwartet hatten, erklärte er bei seiner Rede am Wahlabend, es werde große Veränderungen in der Partei geben. Diese müssten von der gesamten Partei in einem politischen Prozess gestaltet werden. Diese Ankündigungen deuten auf einen baldigen Parteikongress hin. Aufgrund der Europawahlen im nächsten Jahr ist Eile geboten.
Viele Wählerinnen und Wähler hatten sich schon bei der Wahl im Mai von SYRIZA verabschiedet, der größte Anteil ging damals an die politische Mitte – an die sozialdemokratische PASOK sowie die Nea Dimokratia, der Rest an die Konkurrenten im linken Parteienspektrum. Als Grund für diese Wählerwanderung wird innerhalb der Partei die Krisenrhetorik gesehen. SYRIZA wurde hier Opfer eines politischen Paradoxons: Die Partei stellte sich als kompetente und erfahrene Krisenexpertin dar, die die vielfältigen Herausforderungen bewältigen kann. Die Wähler waren der Krise jedoch überdrüssig und kehrten der Partei und ihrem Krisennarrativ den Rücken. Der große Wunsch der Menschen nach Stabilität hat konservativer Politik damit letztlich in die Hände gespielt.
Neben diesem grundsätzlichen strategischen Fehler waren Kommunikationsfehler im Endspurt der Kampagne für das dramatische Ausmaß der Niederlage verantwortlich. SYRIZA trat gegen Ende des Wahlkampfes zu uneinig und unkoordiniert auf. Der angeschlagenen Partei setzte nach dem ersten Wahlgang im Mai zusätzlich die Konkurrenz im linken Spektrum zu, was zu weiteren Wählerverlusten am Wahltag führte. So konnte Plefsi Eleftherias, die Partei der ehemaligen Parlamentspräsidentin und des Ex-SYRIZA-Mitglieds Zoi Konstantopoulou, knapp die Drei-Prozent-Hürde überwinden. Plefsi Elefterias ist in ihrer ideologischen Ausrichtung am ehesten mit den von Sahra Wagenknecht propagierten Überzeugungen zu vergleichen. Die kommunistische Partei KKE konnte sich erneut verbessern und landete mit 7,7 Prozent auf Platz 4. Entscheidend dafür war sowohl ein modernerer Wahlkampfstil mit präzisen Botschaften als auch ein Parteivorsitzender mit Zugkraft, dem sogar Kritiker hohe Sympathiewerte geben.
Was trauen Sie der sozialdemokratischen PASOK zu? Wird sie im linken Spektrum eventuell SYRIZA überholen können?
Zu Recht bezeichnet sich PASOK als geheimer Wahlsieger, konnte die Partei doch gegenüber ihrem Wahlergebnis von 2019 deutlich von acht auf zwölf Prozent zulegen. In zwölf der insgesamt 59 Wahlregionen landete PASOK auf dem zweiten Platz und überholte SYRIZA. Nach der Wahl im Mai hatte die Partei die Latte allerdings sehr hoch gelegt und verkündet, man werde SYRIZA als stärkste Kraft der Opposition ablösen. Dieses Ziel wurde klar verfehlt. Der Abstand zum linken Rivalen hat sich zwar verringert, aber vor allem, weil SYRIZA so deutlich eingebrochen ist.
Insgesamt ist die politische Linke in Griechenland empfindlich geschwächt.
PASOK träumt schon lange davon, dass eines Tages auf einen Schlag alle Wähler, die an SYRIZA verloren gegangen waren, wieder zurückkehren. Diesen Traum muss die Partei nun aber wohl endgültig aufgeben. Helfen kann der Partei beim Wiederaufbau jedoch die starke Verankerung in gesellschaftlichen Organisationen wie den Gewerkschaften – eine Erbschaft aus den langen Regierungszeiten vor der Finanzkrise. Auch eine erleichterte Außendarstellung der Partei mag hilfreich sein, denn der Parteivorsitzende Androulakis hat nun ein Mandat errungen und kann damit im griechischen Parlament auftreten. Dies war bisher nicht möglich, da Androulakis seit 2019 Europaabgeordneter in Brüssel war und von dort aus zum Parteivorsitzenden gekürt worden war.
Insgesamt ist die politische Linke in Griechenland jedoch empfindlich geschwächt und droht in dem neuen Acht-Parteien-Parlament kaum gehört zu werden. Im Zuge der Ursachenforschung für diese Entwicklung müssen PASOK und SYRIZA sich die Frage stellen, ob die politische Rechte von ihrem Streit profitiert hat. Eventuell braucht es eine neue Form der politischen Kooperation, um progressiver Politik im Parlament wieder mehr Sichtbarkeit zu verschaffen.
Welche Rolle hat das Bootsunglück vor der griechischen Küste und das Thema Migration bei der Wahl gespielt?
Das Bootsunglück vor der Küste der West-Peloponnes hat das Abschneiden der ND nicht wesentlich beeinflusst. Gleichzeitig dürfte es die Wähler rechter und rechtsextremer Parteien mobilisiert haben. Unter dem Deckmantel der Humanität forderte beispielsweise die „Griechische Lösung“ eine noch härtere Gangart in der Migrationspolitik: Dazu gehören unter anderem lebenslange Haftstrafen für Schleuser, eine stärkere Sicherung der Grenzen sowie die Schließung aller NGO.
Schließlich sind circa 70 Prozent der Bevölkerung der Meinung, dass das Land keine weiteren Migranten verkraften kann, und stehen damit in Einklang mit dem harten migrationsfeindlichen Kurs der ND-Regierung. Außerdem war zum Zeitpunkt des Unglücks und in den Tagen danach eine Übergangregierung im Amt, so dass Mitsotakis sich nicht direkt verantworten musste. Dennoch meldete er sich zu Wort, prangerte die „erbärmlichen Schmuggler“ als die wahren Verantwortlichen der Tragödie an und lobte die Küstenwache für ihren Einsatz bei der Rettung der Überlebenden. Vermutlich um die Wähler der Mitte nicht zu verschrecken, wurde ein ND-Kandidat aufgrund rassistischer Äußerungen zu dem Bootsunglück aus der Partei ausgeschlossen. Der unmittelbare Besuch des Unglücksortes von Tsipras wurde von vielen Beobachtern hingegen als opportunistisch und wahlkampfgetrieben bewertet. Er betonte mit seiner Reaktion zudem die migrationsfreundliche Politik seiner Partei, die innerhalb ihres Wählerspektrums aber umstritten ist.