Das Interview führte Claudia Detsch.
Herr Sinn, zuletzt wurde vermehrt über die sogenannte Clan-Kriminalität in Deutschland berichtet. Haben die Aktivitäten in diesem Bereich zugenommen oder richtet sich schlicht das Interesse stärker darauf?
Zur sogenannten Clan-Kriminalität haben wir noch nicht viele Erkenntnisse. Ich würde Ihre Frage daher gern anders beantworten: Wir schauen jetzt besser hin. Wir kennen das Phänomen, haben es aber jahrelang nicht als etwas wahrnehmen wollen, was mit Familienverbänden in Zusammenhang steht. Da herrschte eine gewisse Zurückhaltung. Mit dem Label Clan-Kriminalität kann eine Stigmatisierung einhergehen. Deshalb muss man immer deutlich machen: Es geht nicht um den kriminellen Familienclan. Es geht um kriminelle Familienmitglieder. Um ein missverständliches Labeling zu vermeiden, hat man dieses Thema in der Vergangenheit vielleicht zu zögerlich angefasst. Das hat sich gerächt. Es gibt No-go-Areas in bestimmten Großstädten Deutschlands, wo sich die Polizei nicht mehr reingetraut hat. Jetzt sagt man: „Wir müssen eine Gegenstrategie entwickeln.“ Diese Gegenstrategie führt natürlich zu einer höheren Medienwirksamkeit.
Bei Gruppen wie der Mafia oder den Narcos ist relativ unstrittig, dass es sich um Organisierte Kriminalität handelt. Aber es fehlt an einer einheitlichen Definition, was Organisierte Kriminalität eigentlich ist und welche Gruppen und Aktivitäten darunterfallen. Warum ist es so schwierig, das klar zu bestimmen?
Organisierte Kriminalität hat viele Gesichter. Sie erwähnten die Mafia. Dann gibt es aber auch die Rockervereinigungen. Es gibt die tschetschenische organisierte Kriminalität, die russische organisierte Kriminalität, die türkisch und natürlich auch deutsch dominierten Gruppierungen.
Und es gibt auch Organisierte Kriminalität in der Wirtschaft. Das will man nicht richtig wahrhaben – jedenfalls in Deutschland nicht. Sie sehen: OK hat viele Gesichter. Und das macht es so schwierig, eine Definition zu finden, die zu all diesen Gesichtern passt.
Was sind die bevorzugten Betätigungsfelder in Deutschland? Sie sprachen gerade den Wirtschaftsbereich an.
Lassen Sie uns über das Hellfeld sprechen, also über das, was man sieht. Und man sieht nur das, wo man hinschaut. Raten Sie mal, was auf Platz eins steht? – Drogen. Warum? Weil wir das am besten im Blick haben. Wir haben lange Erfahrungen mit Drogen. Wenn Sie hinschauen und ihr jahrzehntelang erworbenes Wissen nutzen, dann werden Sie jedes Jahr ihre Erfolgsstatistik erfüllen. Und was passiert dann? Dann kriegen Sie Ihre Ressourcen für das kommende Jahr. Das ist nichts Neues.
An zweiter Stelle stand im Jahr 2019 schon die Kriminalität im Zusammenhang mit dem Wirtschaftsleben, wobei darunter Delikte wie beispielsweise Betrug und Untreue fallen. Das macht 16,9 Prozent der Gesamtverfahren aus, im Vergleich zu 34,9 Prozent bei Drogen.
Dann kommen Eigentumskriminalität (15,2 Prozent), Schleuserkriminalität (10,4 Prozent) gefolgt von den Steuer- und Zolldelikten mit 7,2 Prozent. Bei den Steuer- und Zolldelikten sind 50 Prozent aller Delikte Zigarettenschmuggel. Gewaltkriminalität (2,9 Prozent) und Geldwäsche (2,6 Prozent) sind gemessen an der Gesamtverfahrenszahl weniger auffällig als die anderen Betätigungsgebiete.
Sie werden sich wundern: Warum Geldwäsche ganz hinten?! Das ist doch ein Riesending? Die Erklärung liegt unter anderem darin, dass unsere Geldwäscheverfolgung bisher noch nicht ausgereift und effektiv genug ist. Also sehen wir nicht genug und deshalb erscheinen im Hellfeld auch nur wenig Verfahren.
Und wie sieht es international aus?
Es gibt dazu eine Studie der OECD aus dem Jahr 2016. Dort wurde errechnet, was die Organisierte Kriminalität in allen Tätigkeitsfeldern weltweit durch kriminelle Aktivitäten erwirtschaftet. Da sind wir bei 870 Milliarden US-Dollar! Da ist alles drin: Waffen, Menschen, Drogen und die gesamte Fake-Industrie.
Jetzt kommt eine Überraschung. Was ist der lukrativste Bereich? Das sind nicht Drogen. Das ist laut dieser Studie die Produktpiraterie. 461 Milliarden US-Dollar erwirtschaftet die Organisierte Kriminalität nur durch Produktpiraterie. Warum wird das in Deutschland so nicht abgebildet? Ganz einfach: Weil keiner hinschaut.
Obwohl wir auch betroffen sind.
Wir sind enorm betroffen. Jedes Jahr wird vom Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau ein Jahresbericht herausgegeben, der äußerst aufschlussreich ist.
Maschinenbau? Man denkt bei Produktpiraterie eher an Handtäschchen …
Das ist ein sehr verzerrtes Bild mit Täschchen und Sonnenbrillen. Beim Maschinen- und Anlagenbau wird hochgerechnet, wie viel Innovationsverlust in Milliarden Euro entsteht; wie sich das in Arbeitsplätzen umrechnen lässt und so weiter. Nehmen wir beispielsweise Kugellager. Da wird die gesamte Lieferkette gefälscht – bis hin zu Webshops, wo Gewerbetreibende und Unternehmer ihre Ersatzteile für ihre Maschinen einkaufen können. Das ist die Realität und nicht nur die Handtasche.
Ein Sicherheitsexperte aus Lateinamerika sagte mir einmal, die Gruppen der Organisierten Kriminalität seien die erfolgreichsten transnationalen Akteure weltweit, weit vor allen Konzernen und zivilgesellschaftlichen Gruppen. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ja, absolut! Es gibt einen Bericht Europols. In diesem Bericht können wir lesen, dass wir 5 000 organisiert-kriminelle Gruppierungen in Europa haben, von denen 70 Prozent international aktiv sind.
Die OK ist sehr flexibel. Sie ist poly-crime aufgestellt, das heißt, eine organisierte kriminelle Gruppierung ist nicht nur im Drogen- oder Waffengeschäft aktiv, sie hat meistens mehrere Tätigkeitsfelder. Nachgewiesen ist, dass in der Europäischen Union 45 Prozent aller Gruppierungen poly-crime agieren.
Warum ist das so? Dadurch gelingt es, Synergien bei der Logistik zu schaffen. Und wenn der Verfolgungsdruck an einer Stelle höher wird, dann können die Gruppierungen immer noch ausweichen und an einer anderen Stelle Geld verdienen. Das macht auch die Verfolgung so schwierig.
Wie sehr hat Corona die Organisierte Kriminalität beeinflusst?
Die OK ist schnell auch auf Desinfektionsmittel, Masken, Medikamente und neuerdings auch auf Impfstoff eingeschwenkt. Der Containertransport läuft weiter und die großen Mengen an illegalen Substanzen kommen über Container nach Europa und nach Deutschland. Bei den Containern haben wir ein extremes Kontrolldefizit.
Der Markt funktioniert im Übrigen auch über den Versandhandel und das Darknet: So finden Sie beispielsweise eine heute noch aktive Darknetplattform unter dem Namen „Deutschland im deep web“, auf der illegale Substanzen gehandelt werden. Das erfolgt über den Postversand und das läuft alles weiter.
Wir werden in den kommenden Monaten sehen, was mit den Corona-Subventionen passiert ist. Ich gehe davon aus, dass die Organisierte Kriminalität sich auch diesen Bereich erschlossen hat. Es fanden bei den Subventionen kaum Prüfungen statt, da man schnell helfen wollte.
Ihr Forschungsprojekt widmet sich auch dem Thema Allianzen zwischen Organisierter Kriminalität und terroristischen Gruppen. Wie muss man sich das vorstellen?
Wir nennen das „hybride Formen“ oder „hybride Organisationen“. Es gibt zahlreiche Beweise für diese Allianzen. Da sind die Hisbollah und die FARC, da sind Al-Qaida und der IS. Bei all diesen Organisationen hat man Verbindungen zur Organisierten Kriminalität festgestellt. Als der Daesh noch sehr aktiv und erfolgreich war, war Syrien Hauptproduzent gefälschten Captagons – ein Amphetamin. Hergestellt wurde es, um die Daesh-Terroristen im Kampf ausdauernder werden zu lassen und um ihre Leistungs- und Konzentrationsfähigkeit zu steigern sowie um Müdigkeit, Angst und Schmerzen zu unterdrücken.
Der Daesh konnte natürlich nicht selbst mit Drogen handeln, das passte nicht ins ideologische Konzept. Aber man hat bestimmte Routen offen gelassen und dafür Geld genommen. Man hatte eine Art Wegzoll eingeführt.
Generell muss man zudem vor allem im Bereich der Geldwäsche hinschauen. Es gibt Organisationen, die für terroristische Gruppierungen Geldwäscheaktivitäten anbieten.
Wie sind die deutschen Sicherheitsbehörden beim Kampf gegen die OK heute aufgestellt? Steigt die Aufmerksamkeit für das Thema?
Die steigt nicht. Wenn wir uns die Lagebilder aus Wiesbaden anschauen, kann ich immer nur kommentieren: „Aus Wiesbaden nichts Neues!“ Die Lage ist immer stabil. Die Zahlen für 2019? 579 Verfahren wurden wegen Organisierter Kriminalität registriert, davor waren es 535 (2018) und 2017 waren es 572 OK-Verfahren. Wir tun zu wenig gegen OK.
Warum ist das so?
Es gibt verschiedene Gründe dafür. Seit den Anschlägen von 9/11 hat in der Europäischen Union eine Verschiebung der Priorisierung stattgefunden. Viele Ressourcen, die früher zur Prävention und Repression gegen die OK eingesetzt wurden, werden heute der Terrorbekämpfung gewidmet. Auch das Thema Cyber Crime wurde aufgewertet. Der Kampf gegen die Organisierte Kriminalität ist heute nicht mehr hochpriorisiert. Das wird man offiziell nicht eingestehen wollen. Aber die Realität ist so. Die Ressourcen gehen heute in Cyber und in Terror.
Wenn sie OK verfolgen wollen, können sie zwei Strategien anwenden: Sie zerschlagen die Struktur oder Sie nehmen den Organisationen das Geld weg. Beim Geld sind wir seit 2017 mit dem neuen Recht zur Vermögensabschöpfung etwas weiter. Man wird sehen, ob das erfolgreich ist. Aber wenn Sie Geld wegnehmen, wird die Struktur lediglich geschwächt. Die OK wird neue Wege finden weiterzuarbeiten.
Wenn man Strukturen zerstören will, muss man Strukturermittlungen führen. Also nicht nur den Drogenkurier festnehmen und ins Gefängnis stecken. Da ändert sich an der Struktur nichts. Dann kommt eben eine neue Person an die „Front“. Diese Austauschbarkeit von Personen ist ja gerade die Stärke von Organisierter Kriminalität. Also müssen Sie in die Struktur hinein, anders werden Sie die Struktur nicht zerstören können.
Strukturermittlungen sind aber aufwendig, sie sind teuer und - jetzt kommt das Wichtigste – sind nicht immer von Erfolg gekrönt. Jedes Landeskriminalamt, jede Polizeibehörde, jedes Innenministerium in den Ländern und nicht zuletzt das Bundesinnenministerium stehen unter Erfolgsdruck. Ressourcen einzusetzen in einem Feld, wo am Ende nicht viel herauskommt, ist politisch schwierig zu vermitteln. Deshalb ist die Begeisterung für Strukturermittlungen nicht besonders groß. Warum sind Drogen in Deutschland die Nummer eins? Ganz einfach: Weil wir es können. Warum ist Geldwäsche ganz hinten? Ganz einfach: Weil wir es nicht können.
Welche Länder machen es besser?
Das ist schwierig zu beantworten, weil jedes Land und jedes Rechtssystem in einen bestimmten verfassungsrechtlichen und rechtskulturellen Kontext gesetzt sind. Es wird häufig behauptet: Wir müssten mehr von Italien lernen. Jetzt ist es aber so, dass in Italien eine besondere Form von Organisierter Kriminalität vorherrscht – die Mafia-Organisationen, während es in Skandinavien eher Rocker-Vereinigungen gibt.
Auch sind die rechtlichen Instrumentarien nicht ohne Weiteres zu vergleichen. Außerdem haben wir verfassungsrechtliche Grenzen. Unsere Verfassung lässt eine Beweislastumkehr im Strafverfahren nicht zu. In einem Strafverfahren muss immer noch der Staat dem Beschuldigten nachweisen, dass das Geld aus kriminellen Erträgen stammt. Wir können nicht unbesehen solcher Rahmenbedingungen Best Practices aus einem Land in einen anderen Kulturkreis und in ein anderes Rechtsgefüge setzen.
Bewährt haben sich allerdings die sogenannten Joint-Investigation-Teams. Polizeibehörden und staatsanwaltschaftliche Behörden unterschiedlicher Länder wirken in Europa zusammen und koordinieren grenzüberschreitend ihre Ermittlungen. So können sie Strukturen zerstören. Das sollte man ausbauen.
Und nicht zuletzt ist Forschung ein Schlüssel zum Erfolg. Wenn wir mehr wissen, können wir bessere Gegenmaßnahmen gegen die Verbreitung der OK ergreifen. Aber die OK-Forschung ist in Deutschland nicht gut entwickelt, um es noch zurückhaltend auszudrücken. Es gibt kein Forschungsinstitut in Deutschland, das sich ausschließlich mit Organisierter Kriminalität beschäftigt. Hier können wir von anderen Ländern lernen, die derartige Institute eingerichtet haben.
Sind Sie optimistisch, dass wir auf einem guten Weg sind, die Organisierte Kriminalität zurückzudrängen? Man hat oft das Gefühl, der Staat käme immer einen Schritt zu spät.
Dass der Staat zu spät kommt, liegt in der Natur der Sache. Das Strafrecht kommt immer zu spät, nämlich nach der Tat. Wenn wir vor die Tat kommen wollen, müssen wir Prävention betreiben. Wir müssen beispielsweise Unternehmen mit in die Präventionsstrategie einbeziehen.
Das ist nichts Neues, was ich vorschlage. Das Prinzip „know your customer“ ist im Geldwäschegesetz umgesetzt. Aber wir könnten uns auch andere Bereiche anschauen. Bleiben wir beim Terrorismus. Als der Daesh noch sehr aktiv war, habe ich mich gewundert: Wie kann es sein, dass diese terroristische Armee Hunderte von neuwertigen Toyota-Pick-ups hat? Da kann man nachfragen: Wer hat die Autos trotz Exportverbot verkauft? Das muss wohl Toyota gewesen sein. Aber wer hat sie gekauft? Wenn man das wüsste, wüsste man vielleicht auch, wer den Daesh unterstützt und beliefert.
Das können Sie auf OK übertragen. Es gibt zahlreiche Güter, die illegal gehandelt oder mit denen illegale Produkte hergestellt werden. Da finden sich aber kaum Ermittlungsansätze, weil in manchen Bereichen nicht geprüft wird, mit wem Handel getrieben wird.
Wenn wir über den großen illegalen Markt der Produktfälschungen reden, so sollten wir auch über Fälschungssicherheit nachdenken. Es gibt in Europa nur zwei Fälschungssicherungen für Produkte, die unionsweit vorgeschrieben sind: Diese betreffen Arzneimittel und Zigaretten. Warum bei diesen beiden Gütern? Weil dort immense Gewinnmargen erreicht werden und weil bei gefälschten Arzneimitteln auch Gesundheitsschäden entstehen können. Es gibt sonst keine Verpflichtungen für die Unternehmen, ihre Produkte fälschungssicher herzustellen.
Der Markt, auch der illegale Markt, lebt von Angebot und Nachfrage. Die Repression könnte auch stärker die Konsumentinnen und Konsumenten in den Blick nehmen. Warum passiert da nichts? Man könnte eine Awareness-Kampagne starten und dem Bürger, der Bürgerin sagen: „Für dich sieht das so aus, als hättest du ein Urlaubsschnäppchen gemacht. Aber im Großen und Ganzen förderst du eine illegale Wirtschaftsmacht, eine illegale Industrie, die viel Geld damit verdient und nichts an diese Gesellschaft zurückgibt. Überleg’ dir das mal!“