Die Fragen stellte Nikolaos Gavalakis.
Ekrem İmamoğlu, Erdoğans wohl aussichtsreichster Herausforderer, wurde vor rund 100 Tagen verhaftet. Seither kommt es landesweit zu Massendemonstrationen. Nun wurden in Izmir, einer Hochburg der Opposition, über 120 Personen festgenommen – darunter weitere Führungspersonen der CHP. Läuft der Protest von Zivilgesellschaft und Opposition ins Leere?
Nein, ins Leere läuft er nicht. Sonst würde es diese Verhaftungen vermutlich gar nicht geben. Im Moment erleben wir systematische Festnahmewellen, allein in der Metropole Istanbul waren es inzwischen vier oder fünf. Seit März versucht man gezielt, die CHP mithilfe der Justiz unter Korruptionsverdacht zu stellen, und die regierungsnahen Medien greifen das bereitwillig auf. Die Proteste sind aber weiterhin lebendig. Erst gestern gab es vor dem Istanbuler Rathaus eine große Kundgebung – zum einen wegen des 100. Tages seit İmamoğlus Verhaftung, zum anderen weil sich mit den jüngsten Festnahmen in Izmir und dem gestrigen Prozess viel angestaut hat. Bei dem Prozess ging es um den CHP-Parteitag vom November 2023, bei dem Özgür Özel zum Vorsitzenden gewählt wurde. Ziel der Klage ist seine Absetzung. Es ist schlicht ein weiterer Versuch, die CHP zu lähmen.
Sind die Verhaftung İmamoğlus und die neue Festnahmewelle kalkulierte Schritte Erdoğans, die man als Ausdruck von Stärke interpretieren kann – oder sind sie eher ein Zeichen von Nervosität?
Zu Beginn, also im März, war die Regierung sich ziemlich sicher, die Sache schnell erledigen zu können. Die Hoffnung war offenbar, zügig belegen zu können: İmamoğlu ist der Kopf einer kriminellen Organisation und gehört ins Gefängnis. Das hat aber nicht funktioniert. Aktuell versucht die Anklage, Kronzeugen zu finden, aber echte Beweise scheint es bislang nicht zu geben.
Ein weiterer Punkt ist: Man hat die wirtschaftlichen Folgen wohl unterschätzt. Nach der großen Verhaftungswelle am 19. März ist die Lira massiv abgestürzt, ebenso die Börse. Die Zentralbank musste Milliarden an Stützungskäufen leisten, um den Schaden zu begrenzen. Das hat dem Ansehen des Präsidenten – sowohl im Inland als auch im Ausland – erheblich geschadet. Gleichzeitig kann man nun schlecht zurückrudern, ohne Schwäche zu zeigen. Deshalb verfolgt man die Strategie: Augen zu und durch.
Trotz allem scheint Erdoğan bislang nicht ernsthaft unter Druck geraten zu sein. Hat auch die Opposition Fehler gemacht?
Also ich denke schon, dass er unter Druck steht. Wenn man sich die Umfragen anschaut, sieht man: Das Ganze hat ihm persönlich und auch seiner Partei, der AKP, enorm geschadet. Die Zustimmung sinkt weiter. Und die wirtschaftlichen Folgen, die ich angesprochen habe, schränken seinen Handlungsspielraum enorm ein. Ein zentrales Thema ist aktuell die Erhöhung von Mindestlöhnen und Mindestrenten. Wie viel Spielraum es dafür momentan überhaupt noch gibt, ist sehr umstritten. Insofern würde ich sagen: Erdoğan ist geschwächt – und genau das ist ein Grund, warum er jetzt durchzieht. Nicht aus Stärke, sondern weil ein Rückzieher kaum noch möglich ist.
Natürlich hat auch die Opposition Fehler gemacht.
Natürlich hat auch die Opposition Fehler gemacht. Es ist absolut wichtig, weiter auf vorgezogene Neuwahlen und die Freilassung İmamoğlus zu pochen. Aber wenn man bei Wahlen Erfolg haben will, muss die CHP auch ein politisches Profil entwickeln, das über ein reines „Wir sind gegen dies und das“ hinausgeht.
Was wären aus Ihrer Sicht zentrale Punkte, mit denen die CHP ihr Profil schärfen könnte?
Mit dem Amtsantritt von Özgür Özel hat die CHP ein sogenanntes Schattenkabinett gebildet: Parteivorstandsmitglieder übernehmen jeweils als „Ressortchefs“ die Verantwortung für bestimmte Politikbereiche, sozusagen wie Minister in spe. Aber wenn man sich die Umfragen anschaut, zeigt sich: Es gelingt der Partei bislang nicht, in diesen Feldern wirklich Kompetenz zu vermitteln. In fast allen Bereichen werden sie schlechter bewertet als die AKP. Solange sich das nicht ändert, bleiben auch aktuelle Zugewinne in den Umfragen relativ wirkungslos.
Die Partei müsste im Grunde in allen zentralen Politikfeldern erst einmal eigene Positionen entwickeln, insbesondere in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, weil das die Menschen aktuell am meisten beschäftigt. Aber auch in der Außen- und Sicherheitspolitik muss mehr kommen. Und gerade beim Kurdenkonflikt wäre eine klarere Haltung der CHP ebenfalls wichtig.
Inwiefern?
Im Moment unterstützt die Partei den laufenden Prozess – die PKK hat ja ihre Selbstauflösung erklärt, und kommende Woche wird ein erster Schritt zur Entwaffnung erwartet. Geplant ist die Einrichtung einer Parlamentskommission, in der alle Parteien vertreten sein sollen. Aktuell geht es um die Fragen: Wer sitzt in dieser Kommission? Wie soll sie arbeiten? Welche Aufgaben wird sie konkret haben? Das dürfte in dieser oder nächste Woche entschieden werden.
Die CHP hat sich bislang grundsätzlich positiv zum Friedensprozess geäußert. Gleichzeitig betont sie, dass alle damit verbundenen Fragen im Parlament geklärt und transparent verhandelt werden müssen. Özgür Özel sagt: Der Kurdenkonflikt ist erst gelöst, wenn die Kurden selbst sagen, dass er gelöst ist. Die Regierung hingegen behauptet ja immer wieder, es gebe überhaupt keinen Konflikt mehr. Aber das sind bislang alles eher allgemeine Aussagen.
Zu diesen konkreten Punkten hat die CHP bisher keine Position bezogen.
Dabei sollte es im Kern um zentrale Forderungen der Kurden und ihrer DEM-Partei gehen: etwa die Anerkennung der Kurden als Volksgruppe in der Verfassung, die Einführung des Kurdischen als zweite Amtssprache im öffentlichen Dienst, und um muttersprachlichen Unterricht an öffentlichen Schulen. Zu diesen konkreten Punkten hat die CHP bisher keine Position bezogen.
Die CHP glaubt weiterhin, mit İmamoğlu 2028 bei der Präsidentschaftswahl anzutreten. Wie realistisch ist das?
Die Inhaftierung İmamoğlus ist mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar und völlig unangemessen. Aber wenn das offenbar nicht mehr nach juristischen Kategorien bewerten werden kann, ist es letztlich eine Frage politischer Kräfteverhältnisse.
Ich gehe davon aus, dass die Präsidentschaftswahl nicht erst 2028 stattfindet, sondern vorgezogen wird – nach den Plänen der Regierung vermutlich im Herbst 2027. Die CHP fordert sogar Neuwahlen schon im November dieses Jahres, aber ich glaube nicht, dass sie sich damit durchsetzen wird. Ob İmamoğlu freikommt oder nicht, hängt davon ab, wie diese Neuwahl zustande kommt. Erdoğan profitiert nur von vorgezogenen Wahlen, wenn sich das Parlament selbst auflöst. Denn nur so könnte er nach Ablauf seiner Amtszeit noch einmal für das Präsidentenamt kandidieren. Dafür braucht es allerdings eine Zweidrittelmehrheit – und die hat die Regierung bisher nicht.
Damit bleiben noch zwei Optionen: Sie könnte diese Mehrheit bekommen, wenn die DEM-Partei einer Parlamentsauflösung zustimmt – quasi als Gegenleistung für Fortschritte im Friedensprozess. Das wäre für sie allerdings politisch sehr heikel: Die DEM würde sehr stark unter Druck geraten.
Die zweite Möglichkeit wäre eine Einigung mit der CHP. Sollte diese einer Auflösung des Parlaments zustimmen, wird eine zentrale Bedingung jedoch ganz sicher die Freilassung İmamoğlus sein. Im Moment halte ich es für am wahrscheinlichsten, dass es tatsächlich zu einem politischen Deal zwischen AKP und CHP kommt, der politisch ausgestaltet werden müsste. Die CHP wird einer solchen Lösung allerdings nur zustimmen, wenn İmamoğlu tatsächlich freikommt.
Kurz gesagt: Der Deal wäre die Freilassung İmamoğlus gegen Neuwahlen, die Erdoğan eine dritte Kandidatur ermöglichen würden?
Ja, genau. Etwas in der Art hat die CHP ja bereits vorgeschlagen, allerdings mit dem Zeitrahmen, Neuwahlen noch in diesem Jahr stattfinden zu lassen. Dass sich die AKP darauf einlässt, halte ich für eher unwahrscheinlich. Aber über einen Termin im Jahr 2026 ließe sich wohl verhandeln.
Wie bewerten Sie die Reaktion Europas auf die aktuellen Repressionen in der Türkei?
Dass Erdoğan in Westeuropa einen ausgesprochen schlechten Ruf hat, ist kein Geheimnis. Gleichzeitig verfolgen die europäischen Staaten vor allem ihre eigenen Interessen – und die stehen im Moment klar im Vordergrund gegenüber den demokratischen Standards in der Türkei. Diese Eigeninteressen werden derzeit stark von der Aufrüstungspolitik und dem Krieg in der Ukraine dominiert. In beiden Bereichen spielt die Türkei eine strategisch wichtige Rolle – und ist daher kein Land, das man einfach übergehen kann.
Es gibt momentan kein überzeugendes Konzept für eine aktive Türkeipolitik.
Entsprechend zurückhaltend fallen die Reaktionen aus: nicht nur von einzelnen Staaten, sondern auch von Institutionen wie dem Europarat. Man schaut zu, man lässt gewähren, man zieht alles in die Länge. Das gilt ja nicht nur im Fall İmamoğlu, sondern auch bei Selahattin Demirtaş oder Osman Kavala. In beiden Fällen hatte der Europarat eigentlich Sanktionsverfahren eingeleitet – aber seit eineinhalb Jahren dümpeln diese vor sich hin, ohne dass echte Sanktionen folgen. Ich denke, dass in Berlin wie auch in anderen europäischen Hauptstädten derzeit vor allem Realpolitik betrieben wird. Es gibt momentan kein überzeugendes Konzept für eine aktive Türkeipolitik.
Liegt Europas Zurückhaltung auch daran, dass Erdoğan es geschickt geschafft hat, die Türkei zu einem unverzichtbaren Akteur in der internationalen Politik zu machen?
Nein, von Geschicklichkeit würde ich da nicht sprechen. Die Türkei ist allein schon wegen ihrer geografischen Lage, ihrer Größe und der Stärke ihrer Armee ein Land mit erheblichem Gewicht in der Region. Viele der aktuellen Konflikte, die Europa und die Welt beschäftigen, spielen sich im unmittelbaren Umfeld der Türkei ab. Ohne die Türkei ist es daher für einzelne europäische Länder oder auch die EU äußerst schwierig, außenpolitisch wirksam zu handeln.
Das heißt: Man braucht die Türkei – und die Türkei wird derzeit nun einmal von Tayyip Erdoğan regiert. Also braucht man auch Erdoğan. Das ist natürlich keine Liebesbeziehung, es gibt kaum inhaltliche Übereinstimmung. Aber man sucht nach konkreten Übereinkünften, die das weitere Zusammenarbeiten ermöglichen.