Zahlreiche Initiativen sollen die Ukraine dabei unterstützen, sich von den Auswirkungen der russischen Invasion zu erholen. Das sollte auch Anlass sein, die Debatte über den Umfang der internationalen Hilfe und ihre tatsächliche Wirkung in von Konflikten betroffenen Ländern neu zu beleben. Mitte der 1990er Jahre, als die Zahl der bewaffneten Konflikte weltweit zunahm, waren sich die meisten Menschen einig, dass diese Länder vor besonderen Herausforderungen stehen und gezielte Unterstützung benötigen. Diese Sichtweise hat aber nicht zu einer wesentlichen Änderung in der Praxis der internationalen Zusammenarbeit geführt. Stattdessen blieb und bleibt der Ansatz fest in der neoliberalen Vision von Frieden und Entwicklung verankert – trotz zahlreicher Beweise, wie etwa aus Bosnien und Herzegowina, dass dieser Ansatz nicht funktioniert. Angesichts des voraussichtlichen Ausmaßes des Wiederaufbaus in der Ukraine ist es dringend nötig, die internationalen Unterstützungsansätze für konfliktbetroffene Länder zu überdenken.

Keine Frage: Die Ausgangslage für den Wiederaufbau nach dem Krieg in Bosnien und Herzegowina in den 1990er Jahren unterschied sich in vielerlei Hinsicht von der heutigen Situation in der Ukraine: Bosnien und Herzegowina war mit seinen damals vier Millionen Einwohnern bevölkerungsmäßig winzig, seine Wirtschaft überschaubar und exportorientiert und die geostrategische Bedeutung im Vergleich zu der der Ukraine gering. Vor allem aber war die Art des bewaffneten Konflikts anders. Bosnien und Herzegowina sah sich der Aggression seiner Nachbarn Serbien und Kroatien gegenüber. Das Resultat des Bürgerkrieges in den Jahren 1992 bis 1995 war eine hart umkämpfte und sehr spezielle Art der Staatlichkeit, die auch die Bedingungen für die Zusammenarbeit mit internationalen Geldgebern und die Wirtschaftspolitik der Nachkriegszeit prägte. Die Ukraine hingegen hat seit einigen Jahrzehnten kontinuierlich eine eigene Regierung und Führung.

Beide Staaten haben post-totalitäre Transformationen durchlaufen, Krieg erlebt und streben den Beitritt zur Europäischen Union an.

Trotz dieser Unterschiede teilt Bosnien und Herzegowina mit der Ukraine aber einige Ähnlichkeiten: Beide Staaten haben post-totalitäre Transformationen durchlaufen, Krieg erlebt und streben den Beitritt zur Europäischen Union an. Ebenso erleb(t)en beide die Probleme einer massiven Deindustrialisierung. In Bosnien und Herzegowina war die Deindustrialisierung eine Folge der kriegsbedingten Zerstörung. In der Ukraine ist sie das Ergebnis eines drei Jahrzehnte andauernden ökonomischen Wandels weg von einer zentralen Planwirtschaft. In beiden Ländern war und ist der Wiederaufbau nach dem Krieg daher im Wesentlichen eine Frage der wirtschaftlichen Transformation und des Strukturwandels – mit dem Ziel, die Wettbewerbsfähigkeit wiederzubeleben und eine nachhaltige wirtschaftliche Erholung zu bewirken. Diese Ziele werden insbesondere im Zusammenhang mit dem EU-Beitrittsprozess vorangetrieben. Die EU wird zweifellos ein wichtiger externer Akteur für die Ukraine sein. Bis zu einem gewissen Grad spielt sie diese Rolle bereits in Form der Ukraine-Fazilität und im Programm Reform Matrix der ukrainischen Regierung als Teil des Wiederaufbauprozesses. Das bedeutet auch, dass nun gründlich und ehrlich diskutiert werden muss, ob die EU den richtigen politischen Ansatz verfolgt, um die ökonomischen und entwicklungspolitischen Herausforderungen in Konfliktländern zu bewältigen. 30 Jahre nach Unterzeichnung der Friedensverträge ist Bosnien und Herzegowina nach wie vor politisch, wirtschaftlich und gesellschaftlich instabil. Die Wirtschaftsleistung ist so bescheiden wie unbeständig, die Außenhandelsbilanz ist nach wie vor unausgewogen und die Arbeitslosenquote bleibt unverändert hoch. Die beschränkten wirtschaftlichen Perspektiven und die politische Instabilität führen zu einem Massenexodus; einige sprechen von einem „Entvölkerungsdesaster“, durch das die Bevölkerung auf unter drei Millionen Einwohnerinnen und Einwohner gefallen ist.

Die Unterstützung der EU war anfangs an strenge politische Bedingungen für Wirtschaftsreformen geknüpft.

Das Ergebnis der wirtschaftlichen Umstrukturierung, die nach von außen vorgegebenen Plänen und Prioritäten durchgeführt wurde, ist eine dienstleistungsdominierte Wirtschaft (64,4 Prozent des BIP). Die bosnische Industrieproduktion ist hingegen geschrumpft. Die kriegsbedingte Deindustrialisierung wurde während des Wiederaufbaus nur teilweise rückgängig gemacht (das verarbeitende Gewerbe macht derzeit noch 13,9 Prozent des BIP aus). Eine solche geschrumpfte Produktionsbasis führt auch zu einer eher schmalen Steuerbasis. Das wiederum schränkt die Versorgung mit öffentlichen Dienstleistungen ein, obwohl diese als Folge des Krieges noch relativ umfassend, aber auch sehr spezifisch sind. So gibt es beispielsweise verhältnismäßig hohe Sozialausgaben für die direkt vom Krieg betroffene Bevölkerung. Die internationale Hilfe wurde zunächst im Rahmen eines internationalen Protektorats geleistet: Der international ernannte Hohe Repräsentant hat nach wie vor die oberste Exekutivgewalt. Auf nationaler Ebene war die Aussicht auf einen möglichen EU-Beitritt die dominierende externe Kraft, die die Politik bestimmte. Die Unterstützung der EU war anfangs an strenge politische Bedingungen für Wirtschaftsreformen geknüpft. Doch aufgrund politischer Widerstände wurden diese nur teilweise und selektiv umgesetzt, was den wirtschaftlichen Wandel beeinträchtigte und in einigen Fällen Spannungen in der Bevölkerung verursachte. Im Jahr 2015 verabschiedete die Regierung von Bosnien und Herzegowina die sogenannte Wirtschaftsreformagenda 2015–2018, die sich am sogenannten EU-Acquis orientierte, dem zentralen Rahmenwerk für Wirtschaftsreformen im Zuge der Beitrittsbemühungen. Die Umsetzung der Agenda führte jedoch zu Misserfolgen bei der Privatisierung einiger der größten Unternehmen in Bosnien und Herzegowina sowie zur faktischen Einführung eines intransparenten Systems von Leistungen für Kriegsveteranen. Diese Erfahrung zeigt einen Mangel an Sensibilität und Verständnis seitens der Geldgeber für die Situation in einer Nachkriegsgesellschaft.

Die Privatisierung in Bosnien und Herzegowina hat in erster Linie dazu gedient, die wirtschaftlichen Interessen der politischen Eliten zu schützen.

Die Privatisierung in Bosnien und Herzegowina hat in erster Linie dazu gedient, die wirtschaftlichen Interessen der politischen Eliten zu schützen. Gleichzeitig ermöglichte sie es der Regierung, den schwierigen Umstrukturierungsprozess und die Verantwortung für die damit verbundenen sozialen Kosten weitgehend zu umgehen. Reformen der Verteilung von Sozialleistungen waren zutiefst politisch motiviert – schließlich waren Kriegsveteranen die wichtigste Wählergruppe für die jeweiligen ethnisch-nationalen Parteien. Solche kleinteiligen Reformen konnten im Rahmen der internationalen Vorgaben mit dem Argument priorisiert und gerechtfertigt werden, man handle steuer- und schuldenpolitisch nachhaltig. Umfassendere entwicklungs- und sozialpolitische Auswirkungen wurden hingegen heruntergespielt. Insgesamt wurde den spezifisch-kriegsbedingten Problemen in Bosnien und Herzegowina nur unzureichend Beachtung geschenkt. Dazu gehörten das Ausmaß und die Art der wirtschaftlichen Schäden und der Vertreibung, die massive Zerstörung von Produktionsanlagen und Infrastruktur, der demografische Wandel aufgrund großer Bevölkerungsverschiebungen und Abwanderung sowie der fortschreitende Zerfall von wirtschaftlichen, politischen und sozialen Institutionen, kulturellen Normen und Wertesystemen. Wie in Studien nachgewiesen wurde, lassen international fabrizierte und unterstützte Wirtschaftsumstrukturierungsmodelle und deren Prioritäten nur begrenzten politischen Spielraum für eine alternative Wirtschaftspolitik. In Bosnien und Herzegowina wurde dieses Problem durch die ohnehin schwache Regierungsführung in der Nachkriegszeit noch verschärft.

Dennoch: In der tristen Wirtschaftslandschaft des Nachkriegslandes gibt es auch Bereiche, in denen sich die lokale Wirtschaft erholt hat und floriert. Es sind meist die Orte, an denen im und über den Krieg hinaus ein gewisses Maß an Produktionskapazitäten aufrechterhalten werden konnte – entweder durch eine Umstellung der Produktion auf militärische Güter, durch die Rettung eines Grundgerüsts der früheren Produktionsstätten oder schlicht durch den gezielten Schutz der Anlagen vor Verfall und Beschädigung. Ebenfalls entscheidend für den Erfolg war das Zurückgreifen auf das vorhandene lokale Wissen, auf die Erfahrung und die Kompetenzen der Unternehmen sowie die Zusammenarbeit mit den örtlichen Behörden und zivilgesellschaftlichen Gruppen, die sich mit wirtschaftlichen Themen befassen. Diese Partnerschaften halfen dabei, die Möglichkeiten, die durch internationale Hilfe entstanden, gezielt zu nutzen, wenn dies tatsächlich die Bedürfnisse der lokalen Wirtschaft zu befriedigen schien. So wurden beispielsweise mithilfe internationaler Unterstützung lokale Entwicklungsgesellschaften gegründet, die Zugang zu Geschäfts- und Entwicklungsmöglichkeiten sowie zu auf die lokalen Bedürfnisse abgestimmter technischer Hilfe boten. Diese lokale Dynamik unterschied sich deutlich von den nationalen Debatten, bei denen politische Prioritäten zwischen den Geldgebern und den ethnisch-nationalen Parteien in Bosnien und Herzegowina regelrecht ausgehandelt wurden.

Wenn die Ukraine EU-Mitglied werden soll, wie werden sich die notwendigen Wirtschaftsreformen auf die wirtschaftliche Situation der Ukraine auswirken, und welche Folgen hat das wiederum für die EU?

Mit Blick auf die Ukraine ist es für einen erfolgreichen Wiederaufbau dementsprechend von entscheidender Bedeutung, dass die Regierung, die Wirtschaft und die Zivilgesellschaft noch während des Krieges Partnerschaften auf lokaler Ebene aufbauen und pflegen. Sie sollten bereits jetzt an einer gemeinsamen wirtschaftlichen Vision arbeiten, was mit dem Wiederaufbau erreicht werden soll, und dann die Kompetenzen entwickeln, diese Vision mit internationaler Unterstützung in Zukunft umzusetzen. Die Nutzung lokaler Stärken ist der entscheidende Teil dieser Strategie. Die ukrainische Regierung sollte außerdem Lehren aus den Erfahrungen anderer ehemals sozialistischer Länder ziehen, die der Europäischen Union beigetreten sind – allen voran, dass der Beitrittsprozess das Wirtschaftswachstum für eine gewisse Zeit unterstützen kann. Die wirtschaftliche Erholung nach dem Krieg und die internationale Wettbewerbsfähigkeit erfordern jedoch entschlossenes Handeln und Führung im eigenen Land über einen längeren Zeitraum. Dafür muss die Unterstützung durch externe Partner sorgfältig und strategisch geschickt verhandelt werden.

Die Europäische Union sollte alles, was sie jetzt zur Unterstützung der Ukraine unternimmt, bereits im Hinblick auf eine höchstwahrscheinlich politische Lösung des Krieges und deren Auswirkungen auf den zukünftigen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Status der Ukraine betrachten. Hinter allem steht die große Frage: Wenn die Ukraine EU-Mitglied werden soll, wie werden sich die notwendigen Wirtschaftsreformen auf die wirtschaftliche Situation der Ukraine auswirken, und welche Folgen hat das wiederum für die EU? Für die EU und die internationale Gemeinschaft sollte es eine ernüchternde Erfahrung sein, dass es erst einer russischen Aggression in der Ukraine bedurfte, um die Union aufzurütteln und den Beitrittsprozess von Bosnien und Herzegowina fast 30 Jahre nach Kriegsende zu beschleunigen. In Bezug auf die Ukraine muss Brüssel in seinem Umgang mit den Problemen und Bedürfnissen des Landes ebenfalls mehr Sensibilität und Verständnis für die Konfliktsituation zeigen. Die EU sollte auf die Stärken der Ukraine aufbauen und zeitnah aktiv werden, um sicherzustellen, dass ihre Unterstützung für den Wiederaufbau nach dem Krieg wirklich effektiv wird.

Aus dem Englischen von Tim Steins