Nächstes Jahr wird bereits das zwanzigjährige Jubiläum des Beitritts der mittelosteuropäischen Staaten zur EU begangen. Und doch rückt eines der damit verbundenen und für das Leben der Menschen greifbarsten Versprechen durch die jüngsten ökonomischen Entwicklungen weiter in die Ferne – nämlich das der Angleichung der Lebensverhältnisse an die der „alten“ EU-Staaten.

Während die Preise für viele Güter und Dienstleistungen des täglichen Gebrauchs im Zuge der Liberalisierung und Integration der Märkte in den Ländern das westliche Niveau längst erreicht und vereinzelt sogar überholt haben (aus Tschechien lohnt es sich beispielsweise absurderweise für Lebensmitteleinkäufe über die deutsche Grenze zu fahren), bleiben die Löhne und somit auch die Kaufkraft viel zu niedrig. Dies ist insbesondere eine Folge davon, wie die Wirtschaft in dieser Region nach dem Sturz des Staatssozialismus transformiert wurde – mangels einheimischen Kapitals wurde vieles an ausländische Investoren verkauft, zusätzliche Geldgeber wurden durch Steuererleichterungen sowie den Wettbewerbsvorteil aufgrund der niedrigen Löhne angelockt. Aus dieser strukturellen Falle herauszukommen, erweist sich als extrem schwierig.

Daher leben heute weite Teile der Bevölkerung bis in die höhere Mittelklasse hinein -trotz Vollzeitarbeit- in prekären ökonomischen Verhältnissen. Die jüngste Inflationswelle im Zusammenhang mit dem Krieg gegen die Ukraine erreichte in Tschechien letztes Jahr zeitweise die 20-Prozent-Marke, flachte bis heute immer noch nicht unter 15 Prozent ab und liegt für einzelne überlebensnotwendige Güterarten, wie zum Beispiel Lebensmittel, nach wie vor weit darüber. Geschuldet ist dies neben den objektiven Ursachen, wie dem Krieg in der Ukraine und der Coronapandemie, vor allem der konzentrierten Macht der großen ausländischen Konzerne auf dem tschechischen Markt – der Verkauf von Lebensmitteln liegt beispielsweise in den Händen von einigen wenigen ausländischen Supermarktketten – und der Untätigkeit der Regierung, die sich aus ideologischer Überzeugung auch in einer solchen Situation auf die – versagenden – Markkräfte verlässt. Dies hat das langfristige strukturelle Problem der niedrigen Kaufkraft weiter verschärft.

Weite Teile der Bevölkerung befinden sich in einer mehr oder weniger kritischen sozialen Lage.

Besonders eindrücklich wird dieses Problem vom Instrument des existenzsichernden Mindestlohns aufgezeigt, das von sogenannten Living Wage-Ansätzen ausgeht und dessen aktuelle Höhe im April von einer Expertenplattform veröffentlicht wurde. Demnach sind für ein Leben, das neben dem Nötigsten, wie Wohnen und Verpflegung, auch basale soziale und kulturelle Teilhabe oder die Möglichkeit, bescheidene Rücklagen zu bilden, beinhaltet, in Tschechien derzeit mindestens rund 1 750 Euro brutto notwendig. In der Hauptstadt Prag sind es noch cirka 100 Euro mehr. Auf zwei Dritteln der Stellen in Tschechien wird ein Einkommen in dieser Höhe jedoch nicht gezahlt und die Anzahl der unterbezahlten Stellen ist seit dem Vorjahr wegen der Inflation noch um die Hälfte gestiegen.

Weite Teile der Bevölkerung befinden sich in einer mehr oder weniger kritischen sozialen Lage, die eigentlich nach staatlichen Eingriffen und Unterstützung rufen würde. Demonstrationen mit entsprechenden Forderungen, die aber leider insbesondere von extremistischen Kräften organisiert wurden und bei denen sich somit legitime Forderungen mit extrem problematischen vermischen, finden in dem Land, in dem sonst selten demonstriert wird, einen vergleichsweise großen Zulauf. Im September 2022 fanden sich beispielsweise in der Prager Innenstadt an die 80 000 Menschen zusammen, um insbesondere gegen hohe Energiepreise zu protestieren – verbunden mit dem Aufruf, Hilfen für die Ukraine zu stoppen.

Die aktuelle tschechische Regierung – und das wird selbst auf progressiver Seite im Ausland häufig übersehen, feierte sie doch bei ihrer Wahl 2021 den Sieg über den affärenbehafteten Oligarchen Andrej Babiš – verfolgt in dieser Situation einen extrem neoliberalen Kurs. Absurderweise werden von ihr also kaum Entlastungen oder neue Hilfen für die Arbeitnehmer auf den Weg gebracht, sondern fast ausschließlich zusätzliche Belastungen.

Am 11. Mai hat die Regierung nun ein umfangreiches kleinteiliges Paket zur Konsolidierung des Staatshaushalts und eine Rentenreform vorgestellt. Die Staatsverschuldung als solche ist in Tschechien zwar noch vergleichsweise niedrig, das Tempo der Neuverschuldung gehört aber zur europäischen Spitze, so dass Warnungen von einem „Griechenland-Szenario“ allgegenwärtig sind. Neben geringfügigen Anhebungen bei der Körperschafts- und der Immobiliensteuer wird die Mehrwertsteuer für viele bislang vergünstigte Waren steigen; es sollen zahlreiche Abschreibungsmöglichkeiten bei der Einkommenssteuer abgeschafft werden, unter anderem die für gewerkschaftliche Mitgliedsbeiträge; neu eingeführt wird eine Beteiligung der Arbeitnehmer an der Krankenversicherung, was ihr Netto-Einkommen schmälern wird; das Renteneintrittsalter wird steigen – um nur einige Vorhaben zu nennen. Bezeichnend ist auch das Narrativ, mit dem die Reform vorgestellt wurde – die Schritte seien alternativlos, um den Staatsbankrott und einen kompletten Staatsniedergang abzuwenden. Man wolle jetzt alles daransetzen, die Alternativlosigkeit hinsichtlich dieser unbequemen Einschnitte der Öffentlichkeit zu erklären.

Die Sanierung des Staatsbudgets wird vorwiegend von den Arbeitnehmern getragen.

Es bleibt zwar abzuwarten, wie alle angekündigten Maßnahmen letztlich umgesetzt werden. Die Bilanz scheint aber jetzt schon klar zu sein: Die Sanierung des Staatsbudgets wird vorwiegend von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern getragen, wobei die Regierung offenbar auch für kleinere Einsparungen dramatische Eingriffe in die Lage der Menschen riskiert. Zudem gilt das Paket als inflationstreibend und wird weitere Teuerungen mit sich bringen.

Augenfällig ist dabei die weitgehende Schonung von Unternehmern und Firmen, Rentiers, Großeigentümern und Erben, die an der Konsolidierung des Staatshaushalts kaum beteiligt werden. Spielraum gäbe es hier, im Unterschied zu den sowieso schon gebeutelten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, durchaus – entsprechende Steuern sind in Tschechien extrem niedrig oder gar nicht existent. Zum Beispiel wird nun zwar die Immobiliensteuer verdoppelt; dennoch werden auch künftig für Wohnungen in besten Lagen nur zweistellige Euro-Beträge pro Jahr fällig werden. Da dabei auch keine Progression eingebaut wurde, wird das Wohnen insgesamt zwar teurer, ohne dass man aber Rentiers mit mehreren Wohnungen adäquat belasten würde.

Gegen die Reform bringen sich nun auch die Gewerkschaften in Stellung. Am 15. Mai haben alle Mitgliedsverbände der Konföderation ČMKOS Streikbereitschaft ausgerufen, auf die ein Generalstreik folgen könnte. Dies könnte sich allerdings als ein strategischer Fehler erweisen, denn ihre Demonstration gegen die hohen Preise im Herbst hat nur einige Tausend Menschen zur Teilnahme bewogen – ein unheilvolles und doch vielsagendes Ungleichgewicht, verglichen mit der rechtspopulistischen Veranstaltung einige Wochen zuvor. Es bleibt abzuwarten, wie viel Druck die jetzigen Schritte entfalten können und ob sie der Position der Gewerkschaften nicht eher schaden.

Dies würde die ohnehin schon explosive soziale und politische Lage verschlimmern, von der aufgrund der derzeitigen Schwäche der sozialen Demokratie höchstwahrscheinlich nur Populisten verschiedener Couleur profitieren werden – unheilvollerweise bilden die parlamentarische Opposition momentan lediglich die Babiš-Partei ANO und die rechtsextreme SPD. Derzeit würden laut Umfragen beide Parteien zusammen eine Regierungsmehrheit erreichen, während den jetzigen Regierungsparteien diese in Umfragen bereits abhandengekommen ist.

Selbst diese gefährliche Konstellation bringt aber die Regierung von ihrem unsozialen Kurs nicht ab, wenngleich direkt nach der Wahl von ihr anderes beteuert worden war. Man sei sich bewusst, dass sich der Populismus aus sozialen Problemen speist, man wolle die enttäuschten und wütenden Menschen zurückgewinnen. Davon ist aber nun nichts mehr zu sehen, zu sehr sind die Regierungsparteien in der andernorts längst überwundenen Austeritäts-Logik verhaftet. Die Gefahr des Machtverlustes zugunsten von extremen Kräften bei der nächsten Parlamentswahl 2025 wird damit immer realer.

Dies sollte von progressiver Seite in Europa stärker wahrgenommen werden, wo im Moment vielerorts noch die Freude über die gute außenpolitische Performanz der Fiala-Regierung sowie ihre Europa- und West-Orientierung besteht. Innenpolitisch handelt es sich nämlich vorwiegend um eine bedingungslose Orientierung an Thatchers Großbritannien der 1980er Jahre und dies kann für das Land in seiner jetzigen fragilen sozialen Lage kaum ohne politische Folgen bleiben.