In einem Land, in dem jeder Minister und Funktionär der AKP seine Erklärung mit „auf Anweisung des Staatspräsidenten“ beginnt, wird dieser nicht müde, von seinen Beiträgen zur Verwirklichung der Demokratie in der Türkei zu sprechen. Zugleich lässt Recep Tayyip Erdoğan nichts unversucht, um seine Macht zu sichern.
Als am 14. Dezember 2022 der Bürgermeister von Istanbul Ekrem İmamoğlu zu einer Haftstrafe von zwei Jahren und sieben Monate wegen Beleidigung des Hohen Wahlrates verurteilt wurde, fragten manche Kommentatoren, was daran verblüffend sei. So befindet sich nämlich der frühere Ko-Vorsitzende der HDP Selahattin Demirtaş entgegen eines Urteils des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte weiter in Haft, ebenso der zivilgesellschaftliche Aktivist Osman Kavala. Und bereits mit der rechtskräftigen Verurteilung der CHP-Provinzvorsitzenden für Istanbul Canan Kaftancığlu, die ebenso wie die von İmamoğlu mit einem Politikverbot verbunden ist, zeigte sich, dass nicht mehr nur Kurdinnen, Linke und unabhängige Aktivisten in der Zivilgesellschaft Ziel von willkürlicher Strafverfolgung werden.
Ekrem İmamoğlu gilt als aussichtsreicher Anwärter auf die Präsidentschaftskandidatur der sechs kooperierenden Oppositionsparteien. In den vergangenen Monaten war er wohl nicht zuletzt aus Parteiraison zugunsten des CHP-Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu in den Hintergrund getreten. Mit seiner Verurteilung ist er nun wieder stärker in den Vordergrund gerückt.
İmamoğlu wird als erster Politiker betrachtet, der Erdoğan in einer Wahl geschlagen hat.
Dies hat – genau wie seine heutige Verurteilung – mit der Kommunalwahl 2019 zu tun. Die AKP hatte zwar den früheren Ministerpräsidenten und Erdoğan-Vertrauten Binali Yıldırım aufgestellt, doch es war offensichtlich, dass es für den Staatspräsidenten eine Frage des persönlichen Prestiges war, diese Wahl zu gewinnen. Doch beim ersten Wahlgang erreichte Ekrem İmamoğlu eine hauchdünne Mehrheit. Nach wochenlangem Neuauszählen der Wahlurnen ordnete der Hohe Wahlrat eine Wiederholung der Wahl an. Doch auch da siegte İmamoğlu, dieses Mal mit einer deutlicheren Mehrheit. Er wird darum als erster Politiker betrachtet, der – wenn nicht direkt, so doch mittelbar – Recep Tayyip Erdoğan in einer Wahl geschlagen hat.
In diesem Kontext ereignete sich eine Polemik, die zum Ausgangspunkt des Beleidigungsprozesses gegen İmamoğlu wurde. Innenminister Soylu hatte İmamoğlu als einen „Idioten“ bezeichnet, der bei einer Europa-Reise die Türkei schlecht gemacht habe. Daraufhin antwortete İmamoğlu, Idiot sei, wer die Wahl in Istanbul wiederholen ließ. Dies wird nun als Beleidigung der Mitglieder des Hohen Wahlrates bewertet, der die Entscheidung getroffen hat. Aus dem Kontext jedoch geht deutlich hervor, dass İmamoğlu Soylu als Anstifter betrachtete und diesen meinte.
Wenn es politisch gewollt ist, wäre ein rechtskräftiges Urteil gegen İmamoğlu vor den Wahlen möglich.
Dass der Vorsitzende des Hohen Wahlrates Muharrem Akkaya erklärte, dass im Falle einer rechtskräftigen Verurteilung İmamoğlu nicht für das Präsidentenamt kandidieren dürfe und, selbst wenn er gewählt werden sollte, keine Ernennungsurkunde bekäme, zeigt das Maß an politischer Einflussnahme. Denn derselbe Vorsitzende hatte zuvor auf die Frage nach der Zulassung einer dritten Kandidatur Erdoğans, die von der Verfassung ausgeschlossen wird, gesagt, dass sich der Hohe Wahlrat erst bei dessen Kandidatur äußern werde. Dies entspreche ja auch dem Grundsatz, dass Gerichte nicht in den Medien, sondern durch ihre Urteile sprechen. Auch Innenminister Soylu meldete sich zu Wort. Im Falle der Rechtskraft des Urteils gegen İmamoğlu werde er ihn von seinem Bürgermeisteramt absetzen. Über die Nachfolge würde dann der Rat der Metropole entscheiden, in dem Erdoğans Partei AKP und die mit ihr verbündete ultranationalistische MHP die Mehrheit haben.
Legte man normale Rechtsmaßstäbe an das Verfahren gegen İmamoğlu an, so hätte er nicht verurteilt werden können. Auch wäre es angesichts der normalen Dauer von Berufungs- und Kassationsverfahren unmöglich, dass das Urteil gegen ihn vor der für Mai oder Juni anstehenden Präsidentschaftswahl rechtskräftig würde. Wie jedoch der Ehrenpräsident des Kassationsgerichtshofes Hamdi Yaver Aktan in einem Interview ausführte, können Berufungsgericht und Kassationsgerichtshof ein Verfahren vorziehen. Wenn es politisch gewollt ist, wäre also ein rechtskräftiges Urteil vor den Wahlen möglich. Die Rechtsfolge einer solchen Entscheidung wäre im Falle einer Kandidatur von İmamoğlu, dass ihm diese aberkannt wird. Wäre er alleiniger Gegenkandidat, würde Staatspräsident Erdoğan ohne Gegner in die Wahl gehen, müsste jedoch mehr als die Hälfte der Stimmen erreichen.
Würde das Urteil vor der Präsidentschaftswahl rechtskräftig, İmamoğlu jedoch nicht kandidieren, so verlöre er sein Bürgermeisteramt. Dies würde der AKP den Vorteil verschaffen, ebenso wie bei den Wahlen zuvor, die enormen Mittel der Metropole für ihren eigenen Wahlkampf mobilisieren zu können.
Ein weiteres Verfahren bewegt sich auf sein Ende zu: Der Verbotsantrag gegen die drittgrößte Partei HDP.
Im Schatten dieser Diskussion bewegt sich ein weiteres Verfahren seinem Ende zu. Das Verfassungsgericht kann noch im Frühjahr über den Verbotsantrag gegen die HDP entscheiden. Es kann sich für ein Verbot entscheiden und damit die drittgrößte politische Kraft des Landes aus dem parlamentarischen Prozess ausschließen. Es kann aber auch beschließen, dass der HDP die staatliche Parteienförderung entzogen wird. Unmittelbar vor oder während des Wahlkampfes wäre dies eine wichtige Einschränkung. Bisher kann sich die HDP der Solidarität der sechs kooperierenden Oppositionsparteien nicht Gewiss sein. Zwar erklären alle sechs Parteien, dass sie grundsätzlich gegen Parteienverbote seien, doch eine explizite Unterstützung erscheint vor allem für die rechts-nationale Iyi-Partei problematisch. Eine Zusammenarbeit mit der HDP hat sie bisher kategorisch ausgeschlossen. Bis zum Beginn des Wahlkampfes wird darum um eine Formel gerungen werden.
İmamoğlu konnte die Bürgermeisterwahl in Istanbul nur mit der Unterstützung der HDP gewinnen. Auch bei der Präsidentenwahl 2023 werden die Anhänger der HDP ausschlaggebend sein. Sollte ein Verbot gegen die HDP erfolgen, kann dies als Versuch bewertet werden, die HDP-Wählerinnen und Wähler von der Wahl abzuschrecken. Offen bleibt, ob in diesem Fall die sechs kooperierenden Oppositionsparteien eine Umgangsweise finden, die die HDP-Basis dennoch motiviert, zur Wahl zu gehen.
Es gibt zahlreiche Beispiele in der jüngeren politischen Geschichte der Türkei, die darauf hindeuten, dass Versuche, Wahlen mit Gerichtsurteilen zu entscheiden, scheitern. Nicht zuletzt verdankt auch Staatspräsident Erdoğan seine politische Karriere auch einem gegen ihn verhängten Politikverbot. Ob dies ihn davon abhält, den eingeschlagenen Weg fortzusetzen, seine Konkurrenten durch die Justiz ausschalten zu lassen, bleibt zwar offen. Doch ist es nicht unwahrscheinlich – schließlich hat er sich auch 2019 zur Wiederholung der Bürgermeisterwahl entschlossen.