Die Fragen stellte Philipp Kauppert.
Was sind bisher die wichtigsten Erkenntnisse vom chinesischen Volkskongress?
Die Signale des diesjährigen Nationalen Volkskongresses (NVK) zielten klar auf eine Stärkung der Wirtschaft, die seit der Pandemie nicht auf einen stabilen Wachstumspfad zurückgefunden hat. Die Weichenstellungen erfolgten vor dem Hintergrund eines schwierigen internationalen Umfelds, sinkender ausländischer Direktinvestitionen (FDI), schwacher Konsumnachfrage, eines Deflationsdrucks, eines angespannten Arbeitsmarkts, einer Immobilienkrise und einer alternden Bevölkerung. Chinas Führung zeigte sich dennoch zuversichtlich, 2025 ein Wachstum von rund fünf Prozent zu erreichen, und versprach eine weitere Öffnung der Wirtschaft.
Auf der Angebotsseite sollen Innovationen und Talente die Modernisierung des Industriesektors durch Schlüsseltechnologien gezielt vorantreiben. Davon profitieren sowohl staatliche als auch private Unternehmen – insbesondere in den Bereichen Energie- und Umwelttechnik, Elektromobilität, Digitalisierung, Künstliche Intelligenz (KI), Quanten-Technologie, 5G und 6G sowie Halbleiter. Der Überraschungs-Coup des KI-Start-ups DeepSeek im Januar hat diese Ambitionen weiter beflügelt. KI war auf dem diesjährigen NVK und in der chinesischen Berichterstattung besonders präsent. Premierminister Li kündigte in seinem Arbeitsbericht an, die Kreativität der digitalen Wirtschaft weiter freizusetzen. Die Strategie „KI plus“ soll die großflächige Anwendung von KI-Rechenmodellen fördern und gezielt intelligente, vernetzte Fahrzeuge, KI-fähige Smartphones und Computer sowie Industrieroboter weiterentwickeln. Es wird erwartet, dass KI in Chinas Fünfjahresplan bis 2030 zur strategischen Priorität erklärt wird. Gleichzeitig wachsen jedoch Bedenken über mögliche Risiken: NVK-Delegierte äußerten Zweifel, ob das bestehende rechtliche Rahmenwerk für KI ausreicht.
Die bereits im Vorfeld eingeleitete Neuausrichtung zugunsten der Privatwirtschaft wurde auf dem NVK bekräftigt – sowohl durch ein Treffen von Staats- und Parteichef Xi Jinping mit der Delegation der Provinz Jiangsu als auch im Arbeitsbericht von Premierminister Li Qiang. Die staatliche Oberaufsicht bleibt dabei unangefochten. Offenbar hat sich erneut die Einsicht durchgesetzt, dass Chinas innovativste Technologieunternehmen aus der Privatwirtschaft eine Schlüsselrolle für die langfristige Vision globaler Technologieführerschaft spielen müssen. Bereits zwei Wochen vor dem NVK traf sich Xi medienwirksam mit führenden Tech-Unternehmern von Huawei, Alibaba, Xiaomi und dem Shootingstar DeepSeek.
Welche Aussagen kamen eher überraschend und unerwartet? Welche neuen Schwerpunkte werden dadurch gesetzt?
Überraschend war die Ankündigung des Premierministers in seinem Arbeitsbericht, dass der ruinöse Verdrängungswettbewerb bekämpft werden müsse. Dabei verwendete er das bisher vor allem umgangssprachlich gebräuchliche Wort Neijuan. Damit deutet er an, dass der Staat zunehmend selbst eingreifen müsse, um systembedingte Überkapazitäten abzubauen. Gleichzeitig signalisiert dies die Hoffnung, dass sich der innerchinesische Wettbewerb künftig stärker über Qualität und Technologie statt über den Preis definieren könnte. Zudem unterstreicht es Chinas Bestreben, zumindest in kleinen Schritten dem Deflationsdruck entgegenzuwirken.
Chinas Führung verspricht seit 15 Jahren eine Stärkung des Binnenkonsums, das Problem des übermäßigen Angebots ist seit Langem bekannt.
Zur Stärkung der Binnennachfrage wird das soziale Sicherungssystem für Chinas 1,4 Milliarden Einwohner weiter ausgebaut. Gleichzeitig sollen die Altenpflege und die sogenannte „Silberhaar-Wirtschaft“ gezielt gefördert werden. Zudem wurde für 2025 ein „Sonderaktionsplan zur Steigerung des Konsums“ angekündigt. Chinas Führung verspricht seit 15 Jahren eine Stärkung des Binnenkonsums, doch das Problem des übermäßigen Angebots ist seit Langem bekannt, und ein System für echte Lohnverhandlungen existiert bis heute nicht. Bisher konnte der Druck durch kommunale Verschuldung und den Export überschüssiger Kapazitäten im Rahmen der Seidenstraßen-Initiative abgemildert werden. Doch angesichts der anhaltend schwachen Inlandsnachfrage und des wachsenden Protektionismus im Ausland schrumpft der Markt für chinesische Produkte in vielen Branchen weiter, während die Zahl unrentabler Unternehmen steigt. Zudem versiegt mit dem schwächelnden Immobilienmarkt eine der Hauptfinanzierungsquellen der Lokalregierungen.
Auf die Anhebungen der Zölle in den USA hat Peking mit einem ambitionierten Wirtschaftsprogramm reagiert. Wie schaut Peking auf die neue US-Regierung und die aktuelle geopolitische Lage?
Peking betont, keinen Wirtschaftskrieg mit den USA zu wollen, sich aber auch nicht dem Druck aus Washington zu beugen. Offiziell heißt es, man habe sich lange auf eine mögliche zweite Amtszeit Trumps vorbereitet. Gezielt martialisch ließ das chinesische Außenministerium im Vorfeld des NVK verlauten, China sei „auf jede Art von Krieg vorbereitet“ – eine Aussage, die auch die Unsicherheit über den Kurs einer zweiten Trump-Administration widerspiegeln dürfte. Bislang hat US-Präsident Donald Trump China, entgegen früherer Ankündigungen, in den ersten sechs Wochen seiner zweiten Amtszeit nicht zur außenpolitischen Priorität gemacht. In Peking rätselt man jedoch, ob dies nur die Ruhe vor dem Sturm ist oder ob der selbst ernannte „beste Dealmaker der Welt“ demnächst einen nachteiligen Deal vorbereitet – mit kleinen Nadelstichen als Vorboten.
Mantra-artig erklären chinesische Entscheidungsträger, dass China ein Stabilitätsanker in einer zunehmend unsicheren Welt sei, während andere große Nationen Unruhe stiften und unzuverlässig agieren würden. Außenminister Wang Yi warnte auf seiner Pressekonferenz, eine „Mein Land zuerst“-Politik treibe die Welt in Richtung des „Gesetzes des Dschungels“. Bezüglich der Beziehungen zu den USA verwies er erneut auf drei grundlegende Prinzipien, die eine Partnerschaft und gemeinsamen Wohlstand ermöglichen sollen: friedliche Koexistenz, gegenseitiger Respekt und beiderseitiger Nutzen. Handelsminister Wang Wentao räumte ein, dass Chinas Exporte angesichts der geopolitischen Spannungen vor großen Herausforderungen stehen. Die Regierung habe daher verschiedene Maßnahmen zur Stabilisierung des Außenhandels ergriffen. Gleichzeitig betonte Wang, dass China zunehmend weniger von Exporten in westliche Länder abhängig sei, da es sich über die Seidenstraßen-Initiative neue Absatzmärkte erschlossen habe.
An Europa gerichtet betont Peking, dass es keine geopolitischen Konflikte mit der EU gebe.
An Europa gerichtet betont Peking, dass es keine geopolitischen Konflikte mit der EU gebe. Die „umfassende strategische Partnerschaft“ solle fortgesetzt, globale Herausforderungen gemeinsam angegangen und der Unilateralismus bekämpft werden. Mit Blick auf den aktuellen Streit um EU-Ausgleichszölle auf chinesische Elektroautos zeigte sich Chinas Chef-Diplomat Wang Yi zuversichtlich, dass beide Seiten ihre Differenzen durch Konsultationen lösen könnten. Auf Europas Hoffnung und entsprechende Fragen von Journalisten, ob Peking seinen Einfluss auf Moskau stärker für ein Ende der russischen Aggression in der Ukraine nutzen werde, ging Wang hingegen nur vage ein.
Für zusätzliche Investitionen wird ein Haushaltsdefizit von vier Prozent in Kauf genommen, es gibt da durchaus gewisse Parallelen zu den Entwicklungen in Deutschland. Wie wird das in China diskutiert?
Tatsächlich hat China mit einem Haushaltsdefizit von vier Prozent das höchste Niveau seit Mitte der 1990er Jahre festgelegt, um seine Wachstumsziele zu erreichen und den Auswirkungen von US-Zöllen und einem drohenden Handelskrieg entgegenzuwirken. Das wichtigste Instrument zur Erreichung dieses Ziels dürfte die Ausgabe zusätzlicher Schuldtitel sein. Für 2025 sind langfristige Anleihen im Wert von rund 182 Milliarden US-Dollar geplant, während Lokalregierungen bis zu 610 Milliarden US-Dollar an Sonderanleihen ausgeben dürfen. Die daraus gewonnenen Mittel sollen dazu beitragen, die Schwäche des Immobiliensektors durch Bauinvestitionen, Landerwerb und den Kauf von Baumaterialien abzumildern. Chinas Straßen- und Schnellzugnetz sowie die Forschungsinfrastruktur sind bereits Weltklasse, da in den vergangenen 20 Jahren massiv investiert wurde. Premierminister Li kündigte auf dem NVK hingegen an, das soziale Sicherungssystem auszubauen, um die Lebensverhältnisse zu verbessern und gleichzeitig Konsum sowie Inlandsnachfrage zu stärken. Während in Deutschland aktuell über höhere Infrastrukturinvestitionen und selektive Kürzungen im Sozialstaat verhandelt wird, bewegt sich China also in die entgegengesetzte Richtung.
Die Verteidigungsausgaben sollen auch ansteigen, damit bleibt China nach den USA die zweitgrößte Militärmacht der Welt. Was heißt das mit Blick auf die chinesische Sicherheits- und Außenpolitik?
Die Militärausgaben steigen – wie in den beiden Vorjahren – erneut um 7,2 Prozent. Damit soll Chinas offizieller Militärhaushalt 2025 auf 1,78 Billionen Yuan wachsen (ca. 246 Milliarden US-Dollar), was 1,7 Prozent des BIP entspricht. Das Militär müsse gemäß den Vorgaben von Staats- und Parteichef sowie Oberbefehlshaber Xi Jinping „militärische Einsätze ausführen“, sich „parallel dazu auf Kriegsfälle vorbereiten“ und bis 2027 „Weltklasse-Niveau“ erreichen.
China will sich gegen alle Gegner verteidigen, eine Unabhängigkeit Taiwans um jeden Preis verhindern und seine wirtschaftspolitischen Interessen entschlossen wahren. Allerdings lässt sich aus der konstanten jährlichen Erhöhung der Militärausgaben und einem Militärbudget von unter zwei Prozent des BIP nicht zwangsläufig ableiten, dass Peking seine außenpolitischen Ziele künftig mit militärischer Gewalt durchsetzen wolle. Doch neben der Schwierigkeit, Chinas tatsächliche Verteidigungsausgaben verlässlich zu schätzen, bleibt die Frage, warum das Land sein Nukleararsenal so rasant ausbaut, modernisiert und diversifiziert – ohne klare Transparenz über die dahinter liegenden Motive und Ziele.