Die Fragen stellte Оlga Vasyltsova.
Die Republik Moldau schien lange wie eine relativ stabile Insel in einer instabilen Region zu sein. Jetzt ist das Land wieder in den Schlagzeilen. Die Regierung von Natalia Gavrilita trat zurück, und Staatspräsidentin Maia Sandu warnt, Russland wolle das Land destabilisieren. Was geht da vor sich?
Die Stabilität war in der Tat relativ. Nachdem Gavrilitas Regierung ihr Amt angetreten hatte, machte die Republik Moldau eine Reihe von Krisen durch. Diese Regierung hatte vom ersten Moment an eine der schwierigsten Amtszeiten seit der Unabhängigkeit unseres Landes zu bestehen, in der gleich mehrere Krisen sich überlagerten. Der Krieg im Nachbarland Ukraine, eine durch den Flüchtlingszustrom ausgelöste humanitäre Krise, Energieerpressung sowie ein nie dagewesener Anstieg der Inflations- und Teuerungsrate. Ich finde, die Regierung hat diese Krisen ganz gut gemeistert, aber die allgemeine Unzufriedenheit mit der sozialen und wirtschaftlichen Lage und die Tatsache, dass das politische Kapital der Regierungspartei aufgebraucht war, zwangen Gavrilita schließlich zum Rücktritt.
Die Unzufriedenheit mit der Regierungspartei PAS entzündete sich unter anderem daran, dass es mit der Justizreform und der Korruptionsbekämpfung nur schleppend voranging. Beides waren zentrale Wahlversprechen und Schwerpunktziele dieser Regierung. Auf diese beiden Bereiche beziehen sich auch die meisten Empfehlungen der Europäischen Kommission, die im Hinblick auf den EU-Beitrittskandidatenstatus der Republik Moldau formuliert wurden. Dass man ausgerechnet bei diesen Themen nur im Schneckentempo vorankam, rief in der Gesellschaft Kritik und Unmut hervor.
Hinzu kommt, dass die Sicherheitslage extrem schwierig ist. Hier hätte man von der Regierung entschlosseneres Handeln erwartet. Ich glaube, dass alle genannten Faktoren zum Rücktritt der Regierung beigetragen haben.
Am Donnerstag wählte das moldauische Parlament eine neue Regierung mit Dorin Recean an der Spitze, der zuvor die Staatspräsidentin in Fragen der nationalen Sicherheit und Verteidigung beraten hat. Was unterscheidet die neue Regierung von der bisherigen?
Ich persönlich habe nicht mit großen personellen Veränderungen in der Regierungsmannschaft gerechnet, und das neue alte Kabinett von Ministerpräsident Recean liefert die Bestätigung. Ich spreche von der „neuen alten Regierung“, weil nur wenige Ministerposten neu besetzt wurden. Die übrigen Minister bleiben im Amt – auch diejenigen, die Schlüsselressorts besetzen und dort wenig bewirkt haben. Ich hoffe sehr, dass der Regierungswechsel wirklich etwas ändert im Land.
Der neue Ministerpräsident Recean hat erklärt, er wolle sich vor allem dafür einsetzen, dass es wirtschaftlich vorangeht, dass in den staatlichen Institutionen wieder Ordnung und Disziplin einkehren und Sicherheit und Stabilität gewährleistet werden. Das alles stimmt optimistisch.
Die neue Regierung muss deutlich machen, dass eine unabhängige Justiz ohne eine Justizreform nicht zu haben ist.
Zum Thema Ordnung und Disziplin: Der Staat muss unbedingt wieder die Kontrolle übernehmen. Die Rechtsprechung zum Beispiel wird nach wie vor von Interessengruppen gekapert, die alle Hebel in Bewegung setzen, um die Justiz so unter Druck setzen, dass die staatlichen Institutionen machtlos sind. Es wird zu Recht kritisiert, dass die Politik sich in das Justizwesen einmischt und die Regierenden immer noch der Versuchung erliegen, die Institutionen zu kontrollieren. Die neue Regierung muss deutlich machen, dass eine unabhängige Justiz ohne eine Justizreform nicht zu haben ist.
Die Justizreform ist und bleibt ein entscheidender Gradmesser für den Erfolg der neuen Regierung und für die Umsetzung des Regierungsprogramms. Denn jeder Fortschritt oder Rückschritt im Rechtswesen hat Auswirkungen auf alle anderen Bereiche – auch auf unsere Fortschritte auf dem Weg der europäischen Integration. Die Hoffnungen unserer Entwicklungspartner richten sich vor allem auf die Reform des Justizwesens und die Korruptionsbekämpfung, auf die sich auch sechs der zehn Empfehlungen beziehen, die von der Europäischen Kommission im Hinblick auf den EU-Beitrittskandidatenstatus formuliert wurden.
Wirtschaftspolitisch braucht es unbedingt ein zukunftsfähiges Entwicklungsmodell. Ob es der neuen Regierung gelingen wird, ein solches Modell zu erarbeiten, bleibt abzuwarten.
Die zweite dringliche Aufgabe liegt auf der Hand: die Wahrung von Frieden und Sicherheit. Beides steht angesichts des russischen Revanchismus auf einem wackeligen Fundament. Die neue Regierung muss die Risiken und Bedrohungen richtig einschätzen und so schnell wie möglich eine neue Sicherheits- und Verteidigungsstrategie entwickeln.
Alle Ziele, die ich genannt habe, lassen sich nur mit starken und kompetenten staatlichen Institutionen sowie mit professionellen und motivierten Staatsdienern verwirklichen. Die Personalnot war eines der Hauptprobleme der Regierung Gavrilita und ist so groß, dass es auch für Recean schwierig werden könnte, sein Regierungsprogramm in die Praxis umzusetzen. Viel wird davon abhängen, ob es gelingt, kompetente Leute für die staatlichen Institutionen zu gewinnen. Der Entscheidungsprozess muss auf jeden Fall transparent und inklusiv gestaltet werden.
Wird der Regierungswechsel den europäischen Kurs der Republik Moldau beeinflussen?
Ministerpräsident Recean will mit seinem Regierungsprogramm erklärtermaßen die Entwicklungsvision der Präsidentin Maia Sandu und der von ihr gegründeten Partei „Tat und Solidarität“ verwirklichen und an die sich verändernden Gegebenheiten anpassen. Das bedeutet, die europäische Integration wird weiterhin oben auf der Prioritätenliste stehen. Der Europakurs des Landes wird auch davon abhängen, ob es gelingt, die mit diesem Prozess verbundenen Reformen durchzusetzen. Dabei kommt es nicht nur auf das Wie, sondern auch auf das Tempo an, in dem diese Reformen umgesetzt werden.
Wie real ist die Bedrohung durch Russland?
Seit Ausbruch des Krieges in der Ukraine ist die Gefahr real. Die Situation in der Republik Moldau hängt in vielerlei Hinsicht davon ab, was im Nachbarland passiert. Solange die Ukrainerinnen und Ukrainer Widerstand leisten, ist ein bewaffneter Konflikt in der Republik Moldau wenig wahrscheinlich.
Es bleibt die Gefahr, dass die hybride Kriegsführung, die Russland gegen die Republik Moldau betreibt, die Regierung zu Fall bringt.
Es bleibt aber die Gefahr, dass die hybride Kriegsführung, die Russland gegen die Republik Moldau betreibt, die Regierung zu Fall bringt. Damit meine ich den Informationskrieg und auch die politischen Aktivitäten prorussischer Kräfte, die von Oligarchen gesteuert werden und die sozialen und wirtschaftlichen Probleme instrumentalisieren, um die Bevölkerung zu radikalisieren, Massenproteste zu organisieren und das Land auf diese Weise zu destabilisieren. Das ist ein fruchtbarer Boden für Sabotageakte unter Mitwirkung ausländischer Akteure, die eine echte Bedrohung darstellen, welche Präsidentin Maia Sandu kürzlich explizit benannte.
Im Augenblick denkt die NATO darüber nach, wie sie „Partner, die für Einmischungen von russischer Seite anfällig sind“, noch stärker unterstützen kann. Auf welche Art von Unterstützung zählt die Republik Moldau vor allem?
Ob die Republik Moldau die Beobachtungs- und Flugabwehrsysteme bekommen wird, um die Maia Sandu den Westen kürzlich bat, ist nicht klar. Worauf Chișinău jedoch zählen kann, sind die Unterstützung bei der Ausbildung von Soldaten, aber auch von Beamten im Sicherheits- und Verteidigungsbereich, die Lieferung von Schutzausrüstung für Soldaten, die Zusammenarbeit im Bereich der Cybersicherheit und vieles mehr.
Um ihr militärisches Potenzial zu vergrößern und einem russischen Angriff in der Zukunft vorzubeugen, braucht Moldau die entsprechende Militärtechnik. Dazu gehören auch letale Waffensysteme. Wir hoffen, der Status als EU-Beitrittskandidat ist der Auftakt zu einer neuen Etappe in der sicherheits- und verteidigungspolitischen Zusammenarbeit der Republik Moldau mit der EU und der NATO.
Aus dem Russischen von Andreas Bredenfeld