Die Fragen stellten Alexander Isele und Nikolaos Gavalakis.

Nach gerade mal sechs Wochen im Amt muss Liz Truss als Premierministerin zurücktreten. Was gab schlussendlich den Ausschlag für ihren Rückzug?

Für viele Beobachterinnen und Beobachter war der Rücktritt eigentlich nur konsequent und folgerichtig. Liz Truss wohnte zuletzt zwar noch in der Downing StreetNummer 10, aber sie war de facto nicht mehr Regierungschefin. Man hatte sie entmachtet. Mit der 180-Grad-Wende ihres neuen Finanzministers Jeremy Hunt war so gut wie nichts mehr übrig von dem Regierungsprogramm, für das die Mitglieder der konservativen Tories sie im Sommer gewählt hatten. Hinzu kam zuletzt eine dreifache Machterosion. Einmal in der eigenen Fraktion im Unterhaus, wo man am Mittwoch einen Aufstand geprobt hat. Dadurch wurde klar, dass sie sich zukünftig keiner Vertrauensabstimmung mehr sicher sein konnte. Zum Zweiten im Kabinett, wo bereits zwei Minister zurückgetreten waren. Das hatte vor einigen Wochen bereits zum Rücktritt von Boris Johnson geführt, und sie musste befürchten, dass ihr Ähnliches auch widerfahren könnte. Und drittens in der Öffentlichkeit: Ihre Beliebtheitswerte waren zuletzt unterirdisch. Es war jedem klar, dass sie die Tories nicht in die nächsten Wahlen führen könnte. Noch schlimmer, sie wäre für die Tories fast existenzbedrohend geworden und da hat man in der Partei wohl die Notbremse gezogen.

Der Vorsitzende der Labour-Partei, Keir Starmer, hat bereits Neuwahlen gefordert. Wie wahrscheinlich ist es, dass es dazu kommt?

Das Vereinigte Königreich ist eine parlamentarische Demokratie und der Premierminister wird von der Partei gewählt, die die meisten Sitze im Unterhaus hat. 2019 hat Boris Johnson in einer historischen Wahl die absolute Mehrheit für die Tories geholt. 365 der 650 Sitze gingen damals an die konservative Partei. Johnson konnte mit einer 80-Sitze-Mehrheit durchregieren und die Tories möchten gerne an diesem Vorsprung festhalten. Theoretisch könnten sie so oft den Premierminister auswechseln, wie es ihnen beliebt. Voraussetzung wäre lediglich, dass der Premierminister den Rückhalt der eigenen Fraktion hat. Dies ist bei Truss offensichtlich nicht mehr der Fall.

King Charles hat wahrscheinlich im Moment eine größere Legitimität als der nächste Premierminister.

Die Tories werden nun einen weiteren sogenannten „Leadership Contest“ durchführen. Im Gegensatz zum Sommer, als dies sieben Wochen dauerte, soll jetzt bis nächsten Freitag jemand gefunden werden. Es dürfte keine Neuwahlen geben, denn diese würden jetzt ein vernichtendes Ergebnis für die Tories ergeben. Die Karrieren zahlreicher Abgeordneter, darunter viele, die aus ehemaligen Labour-Wahlkreisen kommen, würden dadurch sicherlich nachhaltig zerstört. Daher ist es hochgradig unwahrscheinlich, dass in naher Zukunft Neuwahlen herbeigeführt werden. Viele reden hier von einem Demokratiedefizit. King Charles hat wahrscheinlich im Moment eine größere Legitimität als der nächste Premierminister. Ein mögliches Szenario, wonach es doch Neuwahlen geben könnte, wäre, wenn die Tories jetzt keinen Nachfolger finden und im Streit auseinandergehen, die Partei also sozusagen in zwei Teile zerbricht.

Sollten die Tories einen Nachfolger aus den eigenen Reihen wählen, wie wahrscheinlich ist eine Rückkehr von Boris Johnson?

Das ist ein Thema, das hier tatsächlich diskutiert wird. Bis gestern hieß es noch, er würde an seiner journalistischen Karriere arbeiten und versuchen, seine Schulden durch Vortragsreisen abzubezahlen. Jetzt wird er allerdings in der Tat wieder gehandelt. Seine Beliebtheitswerte in der Partei sind weiterhin sehr hoch. Es gibt viele, die nach wie vor der Ansicht sind, er hätte gar nicht zurücktreten müssen. Es gibt aber auch andere Stimmen, die sagen, man bräuchte jetzt einen anderen Kandidaten, der die Partei nicht weiter polarisiert. Einen Konsenskandidaten, der in der Lage ist, in einer Übergangsphase die Partei zusammenzuführen bis zu den nächsten Wahlen. Das wäre Boris Johnson auf keinen Fall. Er würde die Partei sicherlich spalten.

Die Steuersenkungspläne von Truss haben zu Chaos an den Finanzplätzen gesorgt, ihr Rücktritt lässt das Pfund steigen. Wie angeschlagen ist Großbritannien wirtschaftlich?

Das Unglaubliche ist, das Liz Truss ein ganzes Land zum Versuchskaninchen gemacht hat, nur um ihre ideologischen Glaubenssätze von absolut freier Marktwirtschaft in die Praxis umgesetzt zu sehen. Kurzfristig haben wir gesehen, dass es zu einem Eingriff der Bank of England gekommen ist, die versucht hat, den fallenden Wechselkurs des Pfund Sterling auf dem Weltmarkt entgegenzutreten. Dieser Wechselkurs ist sehr wichtig für die britische Wirtschaft, die viele Produktbestandteile importiert, die dann hier weiterverwertet werden, zum Beispiel in der Autoindustrie. Die langfristigen Folgen – sowohl für private Haushalte als auch die Staatskasse – sind vermutlich noch dramatischer. Privat ist es so, dass in Großbritannien für viele Menschen das eigene Haus eine Altersvorsorge bildet. Viele stehen jetzt vor der Frage, ob sie die nächsten Kreditraten bezahlen können. Diese sind teilweise um das Zwei- bis Dreifache gestiegen, der Immobilienmarkt ist eingebrochen.

Laut Prognosen könnte ab 2030 jeder fünfte Brite unter der Armutsgrenze leben.

Auch die Pensionskassen mussten Einbußen verzeichnen. Der Staat ist nun an die Kette gelegt, es gibt eine neue Austeritätspolitik. 40 Milliarden Pfund fehlen im Haushalt. Es wird Einsparungen im öffentlichen Sektor geben. Wir werden einen weiteren Verfall der öffentlichen Infrastruktur sehen, insbesondere auch des Nationalen Gesundheitsdienstes NHS. Es gab schon vor den dramatischen Ereignissen der letzten Tage Prognosen, nach denen ab 2030 jeder fünfte Brite unter der Armutsgrenze leben könnte. Schon jetzt stehen viele ärmere Familien vor der Frage „Eat or Heat“, also mache ich die Heizung an oder gebe ich meinem Kind etwas zu essen? Und diese Situation wird sich leider noch weiter verschärfen, insbesondere für Alleinerziehende.

Die britische Regierung findet keine Lösung für die Probleme des Brexits. Macht der Brexit Großbritannien unregierbar?

Das Abkommen mit der EU ist pragmatisch gesehen nur ein Handelsabkommen. Dieses enthält im Prinzip alle Instrumente und Regeln, die es dem Vereinigten Königreich erlauben, eine gute Wirtschaftspolitik zu gestalten. Labour hat es so formuliert: „Make Brexit work“, man müsse den Brexit einfach nur zum Arbeiten bringen. Was das Land unregierbar macht, ist eine zutiefst gespaltene Tory-Partei, die von ideologischen Betonköpfen gekidnappt wurde und in der sich pragmatische Stimmen überhaupt kein Gehör mehr verschaffen können. Wir sprechen von einer fast 200 Jahre alten Partei, die maßgeblich an der Entwicklung der Demokratie in Großbritannien beteiligt war, in der aber die Selbstzerstörungskräfte des Brexits wirken, die zersetzend sind. Fakt ist: Das Vereinigte Königreich ist seit dem Referendum 2016 instabil. Die Folgen werden jedoch von der Tory-Partei geleugnet. Liz Truss is nun nach Theresa May und Boris Johnson die dritte Premierministerin, die daran scheitert, die angebliche Brexit-Dividende einzufahren. Stattdessen ist das Land nachhaltig geschädigt worden.