Interview von Claudia Detsch

Am kommenden Montag finden nach drei Jahren erstmals wieder Gespräche zwischen Russland und der Ukraine im sogenannten Normandie-Format statt. In Paris werden die Präsidenten der Ukraine und Russlands aufeinandertreffen, Wolodymyr Selenskyj und Wladimir Putin. Deutschland und Frankreich agieren als Vermittler. Ist von den Gesprächen ein Durchbruch bei den Friedensverhandlungen zu erwarten? 

Dass nach so langer Zeit überhaupt wieder Gespräche geführt werden, ist angesichts der schwierigen Lage bereits ein Erfolg. Man muss nun vorsichtig sein, was das Schüren von Erwartungen angeht. Von einem großen Durchbruch hin zum Frieden in der Ost-Ukraine ist man sicherlich noch weit entfernt, zumal es sich um das erste persönliche Treffen Putins mit Selenskyj handelt. Gleichwohl deuten die Zeichen der vergangenen Monate – etwa der Gefangenenaustausch oder die Rückgabe der im letzten Jahr von Russland aufgebrachten ukrainischen Schiffe – auf eine mögliche Besserung der humanitären Lage. Ein noch größerer Gefangenenaustausch, vielleicht sogar nach dem Prinzip „alle gegen alle“ ist möglich, ebenso ein nachhaltiger Waffenstillstand, der Abzug weiterer Truppen und eine Intensivierung der Minenräumung.

Woran könnte eine Annäherung scheitern?

Knackpunkt ist die Frage, ob Wahlen nach ukrainischem Recht in den besetzten Gebieten abgehalten werden können, solange die Ukraine keine dauerhafte Kontrolle über die russisch-ukrainische Grenze im Donbass hat und solange sich dort nicht-ukrainische Militäreinheiten aufhalten. Aus ukrainischer Sicht können nur dann Wahlen stattfinden, wenn die Grenzkontrolle wieder hergestellt wurde und keine russischen Truppen mehr im Land sind – die laut russischer Lesart ja gar nicht da sind. Die Frage ist, warum Russland freiwillig diesen Hebel aufgeben sollte. Nicht zuletzt in dieser zentralen Frage kommt es darauf an, ob Frankreich und Deutschland Russland überzeugen können. Sonst dürften Selenskyjs Bemühungen zwar durchaus eine Besserung der humanitären Lage herbeiführen, jedoch keine dauerhafte Konfliktlösung.

Um die Kriegsregion im Osten der Ukraine ist es in der internationalen Berichterstattung zuletzt ruhig geworden. Wie sieht die Situation vor Ort aus?

Nach ukrainischen Angaben gab es in den letzten Tagen weiterhin tägliche Kampfhandlungen. Zum Glück waren dabei auf ukrainischer Seite keine Gefallenen zu verzeichnen. Diese Meldungen zeigen, dass trotz der Entflechtung und Minenräumung an drei kritischen Stellen der Front noch immer täglich gekämpft wird. Insgesamt ist in den letzten Wochen und Monaten die Intensität zwar deutlich zurückgegangen, aber es gibt bei Weitem noch keinen echten Waffenstillstand.

Selenskyj setzt auf eine Entspannung der Beziehungen zu Russland. Gibt es für diesen Kurs breite Unterstützung innerhalb der ukrainischen Bevölkerung?       

Im Wahlkampf hat Selenskyj den Menschen nichts anderes als Frieden versprochen. Dies war eins der dominierenden Themen. Gleichzeitig ist es ihm bislang kaum gelungen zu erklären, wie er diesen Frieden erreichen will. Zudem braucht es zum Frieden immer die ernste Bereitschaft beider Seiten. Die Stimmung in der ukrainischen Bevölkerung ist diffus: Frieden ja, aber keine Kapitulation. Das tägliche Kämpfen soll aufhören, gleichzeitig soll es aber auch keine tiefgreifende Autonomie für den Donbass geben.

Während klar ist, dass es Frieden infolge eines militärischen Sieges nicht geben kann, ist die Stimmung in der Frage von Konzessionen eher negativ. So kamen die großen Proteste nach der Ankündigung der ukrainischen Seite, die Steinmeier-Formel grundsätzlich zu unterstützen, für viele überraschend. Circa 10 000 Menschen äußerten ihren Unmut darüber, dass die Ukraine einen Souveränitätsverlust hinnehmen müsse. Sie stellten die Frage, wofür bislang schätzungsweise 13 000 Menschen in diesem Krieg ihr Leben gelassen hätten. Hinzu kommt, dass etwa 60 Prozent der Menschen in der Ukraine nicht wissen, was die polarisierende Steinmeier-Formel eigentlich beinhaltet und was nicht. Dies macht sie äußerst anfällig für Populismus und Agitationen der nationalpatriotischen Kräfte, allen voran des Lagers des früheren Präsidenten Poroschenko, die zum Kampf „gegen die Kapitulation“ aufrufen. Für Selenskyj wird es daher schwer, für seinen Kurs zu werben. Dies macht die Aussichten auf eine Friedenslösung im Rahmen des Normandie-Gipfels noch unwahrscheinlicher.

Worum geht es bei der sogenannten Steinmeier-Formel konkret und warum ist sie so umstritten?

Die Steinmeier-Formel wird überinterpretiert. Sie besagt, dass die Ukraine den besetzten Gebieten zunächst einen vorläufigen Sonderstatus gewährt, ehe es zu Lokalwahlen kommt. Wenn die OSZE dann bescheinigt, dass diese Wahlen frei, fair und demokratisch abliefen, wird dieser vorläufige Sonderstatus in einen dauerhaften umgewandelt. Die Formel regelt jedoch nicht, ob russische Truppen während der Wahlen präsent sein dürfen und ob die Ukraine die Grenzkontrolle innehat oder nicht. Aufgrund dieser Unklarheit hat die Ukraine die Formel unter Ex-Präsident Poroschenko nie öffentlich unterstützt. Deswegen ist die Klärung dieser großen offenen Fragen auch so wichtig für den Normandie-Gipfel.

Wie einfach wird es für Selenskyj, ein Gesetz zum Sonderstatus überhaupt durch das Parlament zu bekommen?

Nach dem Ausschluss von drei Parlamentsabgeordneten aus seiner Fraktion „Diener des Volkes“ ist die parlamentarische Mehrheit Selenskyjs, die er für die Verlängerung des bis zum 31.12. geltenden Gesetzes über den Sonderstatus des Donbass oder ein komplett neues Gesetz zum Sonderstatus braucht, geschrumpft. Seine Fraktion ist aufgrund der vielen verschiedenen Interessengruppen ohnehin schwierig zu disziplinieren. Parlamentspräsident Rasumkow hat Verhandlungen über das neue Gesetz nach dem Gipfel angekündigt. Allerdings sei daran erinnert, dass es schon bei den letzten Verlängerungen des Sonderstatus-Gesetzes zu Toten und Verletzten bei Ausschreitungen kam. Man mag sich daher vorstellen, welche Sicherheitslage auf Kiew nach einer eventuellen Gipfel-Einigung zukommt. Vor diesem Hintergrund wird die innenpolitische Front bei der Verabschiedung dieses Gesetzes nicht viel leichter als die außenpolitische in Paris.

Welche Auswirkungen hat die Biden-Trump-Affäre auf die Verhandlungen zwischen Russland und der Ukraine? Haben die Enthüllungen die Verhandlungsposition Kiews gegenüber Moskau geschwächt?

Die ukrainische Administration tut alles, um sich aus dieser innenpolitischen US-amerikanischen Angelegenheit herauszuhalten. Sie vermeidet öffentliche Äußerungen dazu. Ohne Zweifel ist die Ukraine in dieser Affäre das größte Opfer. Gleichzeitig nutzt Kiew diese Opferrolle aber nicht für sich aus, wohlwissend, dass die Unterstützung der Trump-Administration unschätzbar wichtig für sie ist. Da jedoch nahezu alle für die Ukraine zentralen Personen der US-Administration infolge der Affäre zurückgetreten sind oder abberufen wurden und die USA ohnehin nicht Teil des Normandie-Formats waren, beschränkt sich die Rolle der USA zurzeit auf den Hintergrund.

In letzter Zeit sind erhebliche außenpolitische Differenzen zwischen Angela Merkel und Emmanuel Macron deutlich geworden. Ziehen die beiden bei den Normandie-Gesprächen an einem Strang oder gibt es auch hier Differenzen?

Deutschland und Frankreich haben von Anfang an bezogen auf das Normandie-Format an einem Strang gezogen. Gleichwohl ist das persönliche Engagement Macrons in den letzten Monaten gegenüber Russland und im Kontext der Normandie-Verhandlungen zu betrachten. Frankreichs Rolle als Gastgeber hat zugenommen, Präsident Macron tritt sehr selbstbewusst auf. Zudem verstehen sich Selenskyj und er persönlich sehr gut, sie sind gleich alt und Macron ist für Selenskyj ein politisches Vorbild. Bei der Bundeskanzlerin, die sich in Fragen der Ukraine bestens auskennt, ist das Verhältnis zu Selenskyj offenbar weniger intensiv, nicht zuletzt dadurch, dass sie während des ukrainischen Wahlkampfes Amtsinhaber Poroschenko in Berlin empfing, anders als Macron jedoch keine Zeit für Wolodymyr Selenskyj fand.