In Donezk wurde am Abend des 31.08. bei einer mobilfunkgesteuerten Explosion der Führer der sogenannten „Donezker Volksrepublik“ (DNR), Alexander Zakharchenko (42) getötet und sein enger Vertrauter Alexander Timofeev schwer verwundet. Zakharchenko war 2014 einer der Kommandeure im von Russland gestützten Aufstand der Ostukraine gegen die Kiewer Regierung. Er übernahm im August 2014 die Führung der Volksrepublik und gehörte zu den Unterzeichnern des Minsker Abkommens.

Wie ist die Lage im Osten der Ukraine nach dem Attentat?

Beide Seiten haben ihre Truppen entlang der Kontaktlinie zunächst in volle Gefechtsbereitschaft versetzt. Berichte über intensivierte Kampfhandlungen gibt es aber bislang nicht. Donezk selbst wurde komplett abgeriegelt, Truppen und Panzer in der Stadt zusammengezogen, der Ausnahmezustand verhängt und die Ausgangssperre erweitert. Am Sonntag folgte dann die Beerdigung Zakharchenkos mit bis zu 200 000 Teilnehmenden, wobei Lehrer und Staatsbedienstete verpflichtet wurden teilzunehmen.

Die „DNR“ hat sehr schnell die Verhaftung von „ukrainischen Saboteuren“ bekannt gegeben, die bereits gestanden hätten. Der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU bestreitet diese Festnahmen.

Ähnlich überraschend  ist die offenbar sehr geordnete und im Einklang mit den Gesetzen der „DNR“ erfolgte Regelung der Nachfolge: Noch am Abend des Anschlags hat der bisherige erste stellvertretende Ministerpräsident der „DNR“, Dmitry Trapeznikov, die Führung der „DNR“ übernommen. Er kündigte an, dass die  Integration in die Russische Föderation weiterhin das Ziel sei. 2016 beschrieb ihn der heutige Sicherheitsminister der „DNR“ Alexander Khodakovsky als „grauen Kardinal“, der direkt von der russischen Präsidialadministration in den Führungskreis der Separatisten installiert worden sei. Dass man nur drei Stunden brauchte, um den neuen provisorischen Leiter der „Republik“ zu bestimmen, zeigt  einmal mehr, dass der Kreml die lokale Elite unter absoluter Kontrolle hat.

Wie haben Kiew und Moskau auf die Ermordung reagiert?

Vertreter der Regierung in Moskau machten umgehend Kiew für die Tat verantwortlich. Der gewaltsame Tod Zakharchenkos  gefährde das Minsker Abkommen. So könne laut Außenminister Lawrow nach der Ermordung Zakharchenkos bis auf weiteres kein Treffen im Normandie-Format mehr stattfinden. Das nächste Treffen war für den Herbst geplant. Der ukrainischen Präsident Petro Poroschenko hat sich bislang nicht geäußert. Das Außenministerium in Kiew erklärte, die schnelle Reaktion des russischen Außenministeriums diene dazu, die vom Kreml unterstützten Marionetten zu decken. Der ukrainische Geheimdienst SBU glaubt, dass Zakharchenkos Tod das Ergebnis von internen geschäftlichen Konflikten unter den Militanten sein könnte. Man schließe aber auch nicht aus, dass Russland selbst hinter der Ermordung steckt, da man Informationen habe, wonach Russland unzufrieden mit Zakharchenko gewesen sein soll.

Welche Fakten sprechen für die Theorie eines gezielten „Austauschs“ der Führung?

Seit Beginn des Sommers waren Zakharchenko und sein enger Vertrauter Alexander Timofeev erheblicher Kritik ausgesetzt. Es gab zahlreiche Spekulationen über die Pläne Russlands, die beiden zu ersetzen. Laut der offiziellen Version ist ein Leibwächter Zakharchenkos, der höchstwahrscheinlich den Sprengstoff gelegt hat, vom Ort des Attentats entkommen. Anderen Quellen zufolge verschwanden sogar insgesamt drei Wachen aus der persönlichen Garde. Es erscheint fraglich, ob der SBU in der Lage wäre, so viele Verräter im unmittelbaren Umfeld des Republik-Chefs zu rekrutieren.

Ein Machtübergang kann auf verschiedene Arten gelöst werden. Aber die Version des Heldentods bietet einen klaren Vorteil: So kann die Ukraine dafür verantwortlich gemacht werden. Eine Ermordung Zakharchenkos war aber nicht im Interesse Kiews, da eine solche Provokation eine offizielle Anerkennung der „DNR“ und „LNR“ als unabhängige Staaten durch Russland zur Folge haben könnte. Damit würde eine Wiedervereinigung der Gebiete mit der Ukraine faktisch unmöglich. Schlimmstenfalls aber hätte eine solche von Kiew ausgehende Aktion einen offenen Krieg mit Russland zur Folge. Kiew ist sich vollkommen darüber im Klaren, dass das Land einer solchen Konfrontation nicht standhalten könnte.

Wie wird sich die Ermordung Zakharchenko auf den Friedensprozess auswirken?

Ein Szenario wäre die Intensivierung der militärischen Konfrontation, entweder weil die Separatisten auf Rache sinnen oder eine der beiden Seiten die Minsker Vereinbarung aufkündigen könnte.

Gegen die Version der Eskalation aber spricht die Erfahrung aus 2017. Igor Plotnitski, Ex-Chef des „LNR“ und ebenfalls Unterzeichner des Minsker Abkommens, wurde damals von seinen „Mitstreitern“ abgesetzt und floh nach Russland. Auswirkungen auf den Minsker Prozess hatte dies nicht. Und auch die Ruhe an der Front in den letzten Tagen spricht gegen ein Eskalationsszenario. Dies schließt jedoch eine Verschlechterung der Lage an bestimmten Sektoren der Front nicht aus.

Positive Auswirkungen auf den Friedensprozess könnte die Benennung Dmitry Trapeznikovs bringen: Er ist der Öffentlichkeit weitestgehend unbekannt und daher zunächst keine Reizfigur wie Zakharchenko es war. Zudem wurde er früher immer wieder als „Rinat Akhmetovs Mann“ beschrieben, dem reichsten Mann der Ukraine, früheren Paten des Donbass und Finanzier des geschassten Präsidenten Viktor Janukowytsch. Wenn es um die Reintegration der „DNR“ mit der Ukraine geht, ist aber eine andere Frage von zentraler Bedeutung:  die Rolle der Russischen Föderation: Ist sie bereit für solche Veränderungen? Ist sie womöglich sogar ihr Initiator? Natürlich kann von einer schnellen und unkomplizierten Rückkehr der unkontrollierten Gebiete nicht die Rede sein. Aber mit einem gemäßigten und noch dazu Moskau gegenüber loyalen Mann an der Spitze der „DNR“ dürfte die Wahrscheinlichkeit einer VN-Friedensmission wachsen, was die schrittweise Re-Integration des Donbass‘ bedeuten könnte.

Die weitere Entwicklung hängt davon ab, ob die Ukraine und Russland sich auf Schlüsselfragen im Zusammenhang mit dem Donbass einigen können - allen voran über den besonderen Status, das heißt, die breite Autonomie der jetzt unkontrollierten Territorien von Donezk und Luhansk und ihre Rückkehr in die Ukraine. Russland hat auch nach vier Jahren die „DNR“ und „LNR“ nicht als unabhängige Staaten anerkannt und scheint somit die Option noch nicht verworfen zu haben, die Gebiete zu eigenen Bedingungen an die Ukraine zurückzugeben.

Für den Moment erleben wir also ein „neutrales“ Szenario. Anfang 2019 stehen in der Ukraine Präsidentschaftswahlen an. Der Austausch der Führungsspitze in der „DNR“ dürfte es Kiew zunächst erleichtern, das strittige Gesetz über den Sonderstatus des Donbass noch einmal um ein Jahr zu verlängern und so dieses emotionale Thema aus dem Wahlkampf rauszuhalten.

 

Die Fragen stellte Claudia Detsch

 

Auch im russischen Journal erschienen:
https://www.ipg-journal.io/intervju/statja/show/komu-vygoden-takoi-iskhod-613/