Politik und Gesellschaft der V. Republik waren jahrzehntelang vom Rechts-Links-Gegensatz geprägt. Die Affinität der französischen Arbeiterschaft zur Linken ging mit der Deindustrialisierung weiter Landstriche verloren. Die kulturelle Zugehörigkeit der „Bobos“, also der gebildeten Mittelklasse, und der Zuwanderer zur Linken konnte den Verlust zwar für eine gewisse Zeit wettmachen. Der Abwanderung von Wählerschichten, die sich als Verlierer der Moderne sehen, konnten die Sozialisten aber keine überzeugenden Angebote entgegensetzen. So ist inzwischen der Stimmanteil der Arbeiter für den rechtspopulistischen Front National (FN) von bereits hohen 27 Prozent im Jahr 1995 auf heute 44 Prozent gestiegen.
Seit FN-Vorsitzende Marine Le Pen ihre Entdiabolisierungsstrategie fährt und die Krisenwahrnehmung immer breitere Bevölkerungskreise erfasst, sind nicht nur Kleinunternehmer und Frührentner zum Wählerpotenzial hinzugekommen. Verändert hat sich auch die politische Grundkonstellation. Der Dualismus von Links und Rechts ist zunehmend einem Tripartismus gewichen. Dies spielte dank des Mehrheitswahlsystems und der „republikanischen Front“ von Konservativen und Sozialisten gegen den FN lange Zeit keine Rolle für die Wahlergebnisse. Mit ständig wachsenden Stimmanteilen, einer extrem hohen Mobilisierung der eigenen Anhänger und den Erfolgen von FN-Kandidaten auf kommunaler und Departement-Ebene ändert sich dies jedoch. Zudem ist der republikanische Konsens zwischen Konservativen und Linken seit Nicolas Sarkozys „ni-ni“ (im Falle einer Stichwahl zwischen FN und Sozialisten würden die Konservativen weder für die einen noch für die anderen eine Wahlempfehlung abgeben) brüchig geworden, auch wenn er dies für die am 23. April anstehende Präsidentschaftswahl revidiert hat.
Neue Gegensätze entscheiden die Wahl
Bei den Vorwahlen der Republikaner (LR) und der Sozialisten (PS) im Januar haben sich die Wähler gegen den Umfragetrend zur Überraschung aller für die jeweils am deutlichsten das klassische ideologische Profil von rechts und links repräsentierenden Kandidaten entschieden. François Fillon bei den LR und Benoît Hamon bei der PS. Während diese beiden für den alten Gegensatz von rechts und links stehen, repräsentieren Macron und Le Pen den in vielen westlichen Staaten zu beobachtenden neuen Konflikt von Offenheitsbefürwortern (Globalisierung, Zuwanderung, Toleranz gegenüber Minderheiten und neuen Lebensformen, Glaube an die Integrationskraft des französischen Gesellschaftsmodells) und Geschlossenheitsbefürwortern (massive Beschränkung der Zuwanderung, nationale Priorität, Einschränkung des Freihandels, Rückkehr zur „guten alten Zeit“).
Le Pen macht daraus einen Gegensatz zwischen „Patrioten“ und „Mondialistes“, was mit „Globalisierungsbefürworter“ zu harmlos übersetzt ist. Der Begriff ist bewusst abwertend gemeint. Le Pen will aus der EU und dem Euro raus, die Zuwanderung von derzeit jährlich 140 000 auf 10 000 zurückschrauben, den Muslimen im Lande deutlich machen, dass sie nicht wirklich dazugehören. Ihre Politik steht für den Rückzug Frankreichs auf sich selbst.
Der Front National vermittelt in der angekündigten Wiedergewinnung der nationalen Souveränität die Illusion einer umfassenden politischen und wirtschaftlichen Steuerbarkeit des Nationalstaats.
Mit Emmanuel Macron ist jemand auf die Bühne gekommen, der sich weder links noch rechts positionieren möchte. Macron will Frankreich für die Globalisierung fit machen und besetzt die EU positiv. Er lobt explizit die Flüchtlingspolitik von Kanzlerin Angela Merkel. Er steht für den Glauben an die Zukunft und die Reformfähigkeit Frankreichs und somit für die Offenheitsbefürworter.
Le Pen hat allerdings den Vorteil, dass ihre Partei eine lange Geschichte hat. Sie hat sich von einer Partei der Ausländerfeinde, Antisemiten und Ewiggestrigen zu einem Sammelbecken derjenigen entwickelt, die Frankreichs Probleme vor allem außerhalb sehen: die Regeln der EU, die Globalisierung, die Immigranten, das „deutsche Austeritätsdiktat“ oder auch bei den eigenen, aber eben „abgehobenen“ Eliten. Der Front National vermittelt in der angekündigten Wiedergewinnung der nationalen Souveränität die Illusion einer umfassenden politischen und wirtschaftlichen Steuerbarkeit des Nationalstaats. Der Erfolg dieser Vision ist auf der Basis eines über Jahre nicht nur vom FN praktizierten EU-Bashings und der Globalisierung einerseits und der historisch gewachsenen Überzeugung von der weitreichenden Steuerbarkeit der Wirtschaft andererseits gewachsen. Marine Le Pen wiederum steht seit Jahrzehnten auf der politischen Bühne und hat sich bei ihrer Anhängerschaft eine große Glaubwürdigkeit erarbeitet. Daran kann auch die Affäre um die Zweckentfremdung von Mitteln der EU für ihre eigenen Mitarbeiter nichts ändern. Die damit zusammenhängende Untersuchung und den Entzug der Immunität durch das Europäische Parlament stellt sie geschickt als Feldzug des Establishments gegen sich und den von ihr in Anspruch genommenen „Willen des Volkes“ dar.
Emmanuel Macron präsentiert sich ebenfalls als Alternative zum „Parteien“-Establishment, ist durch seinen bisherigen Werdegang aber natürlich auch ein Produkt desselben. Seine Distanzierung von den Funktionsmechanismen in den etablierten Parteien, die er für die mangelnde Reformkraft Frankreichs verantwortlich macht, kann ihm diesen „Makel“ in den Augen der Modernisierungsverlierer nicht nehmen. Er hatte aber noch nie ein politisches Mandat, führt den ersten Wahlkampf seines Lebens und kommt auch deshalb ungewohnt frisch daher. Da ihm die Parteibasis fehlt, die vor Ort um Stimmen kämpft, ist er auf Gedeih und Verderb auf seine durch die mediale Präsenz vermittelte Popularität angewiesen. „Längerfristige Wählerbindungen“, wie wir sie aus der Sonntagsfrage kennen, gibt es für ihn nicht. Das ist ein Problem, das selbst bei einem Sieg Macrons noch nicht überwunden sein wird. Bei den im Juni folgenden Parlamentswahlen wird er trotz der mittlerweile 200 000 registrierten Mitglieder und lokaler Unterstützergruppen keine parlamentarische Mehrheit erringen können. Parlamentarische Mehrheiten für sein Reformprogramm zu finden, wird deshalb eine enorme Herausforderung werden, an der das gesamte Projekt scheitern könnte.
Wahlausgang vollkommen offen
Der Skandal um die vermeintliche jahrelange Scheinbeschäftigung seiner Frau auf Kosten des Staates hat dem konservativen Kandidaten Fillon enorm geschadet. Nachdem nun die Justiz offiziell ein Verfahren gegen ihn eröffnet hat und er dies anders als ursprünglich angekündigt nicht zum Anlass für einen Rückzug von seiner Kandidatur nimmt, entziehen ihm selbst Teile seines Kampagnenteams die Gefolgschaft. Dazu kommt, dass seine verunglimpfenden Attacken auf die Justiz in die gleiche Kerbe hauen wie Marine Le Pen. Dieses hilflos wirkende Um-sich-schlagen beschädigt die Gewaltenteilung und die Demokratie in Frankreich ganz allgemein und nutzt am Ende nur dem Front National. Die Linke wiederum scheitert mal wieder daran, sich auf einen gemeinsamen Kandidaten zu verständigen, wodurch Macron reale Chancen hat, in die Stichwahl am 7. Mai zu kommen. Allerdings ist acht Wochen vor dem ersten Wahlgang noch sehr viel Bewegung in den Umfrageergebnissen. Fest steht nur, dass Marine Le Pen die stabilste Anhängerschaft hat und voraussichtlich die Siegerin des ersten Wahlgangs sein wird, während die Macron-Sympathisanten noch weitgehend unsicher sind, ob sie ihm am Ende auch ihre Stimme geben werden. Der Abstand zwischen den potenziellen Gegnern von Marine Le Pen ist zudem so gering, dass noch keine Vorhersage über den Gegner in der Stichwahl getroffen werden kann.
Macron hat bereits zu spüren bekommen, dass seine Umfragewerte höchst volatil sind. Zwei kontroverse Äußerungen haben seine Werte innerhalb weniger Tage um fünf Prozentpunkte abstürzen lassen. Seine Beliebtheit beruht auf einem durch seine Person verkörperten Dynamik-Versprechen sowie der Einbindung von Teilen der Bevölkerung in eine über ein halbes Jahr geführte Kampagne. Sein Wahlprogramm wurde gerade erst veröffentlicht und bietet jetzt Angriffsfläche von verschiedenen Seiten, wodurch ein Teil seiner Unterstützer unweigerlich wegbrechen wird. Außerdem wird ihm bei dem für die Franzosen mehr denn je wichtigen Thema Sicherheit keine Kompetenz zugesprochen. Wenn kurz vor der Wahl ein weiterer Anschlag geschieht, könnten sich die weltoffene Haltung Macrons und seine Unbelecktheit in Sicherheitsfragen gegen ihn wenden.
Falls am Ende doch Le Pen und Macron im zweiten Wahlgang aufeinandertreffen, wird die entscheidende Frage sein, wie sich die konservativen und linken Wähler verhalten werden.
Falls am Ende doch Le Pen und Macron im zweiten Wahlgang aufeinandertreffen, wird die entscheidende Frage sein, wie sich die konservativen und linken Wähler verhalten werden. Laut einer jüngsten Umfrage würden sowohl die Wähler von Fillon als auch die Wähler von Mélenchon in der Stichwahl etwa zur Hälfte Le Pen wählen. Die Wähler Fillons, weil Marine Le Pens Annäherung an Positionen der französischen Katholiken offensichtlich gefruchtet hat, die Wähler Mélenchons, weil sie die Ablehnung der Globalisierung und der EU mit dem FN teilen. Die Wähler der PS würden zum größten Teil für Macron stimmen, um Le Pen zu verhindern.
Die Wahlbeteiligung wird deshalb am Ende darüber entscheiden, ob eine Präsidentschaft Le Pens in greifbare Nähe rückt, oder ob die über Jahrzehnte stabile Verachtung des FN bei einem Großteil der Franzosen noch ausreicht, um in der Stichwahl gegen den FN zu stimmen.
Letzte Chance für Frankreich und Europa
Dieses Mal mag die Kraft dafür noch ausreichen. Wenn der siegreiche Gegenkandidat von Marine Le Pen in seiner Präsidentschaft keine Antworten auf die Herausforderungen findet – und nicht die notwendige Unterstützung seiner europäischen Partner dafür bekommt – wird sich eine Präsidentin Marine Le Pen 2022 nicht mehr aufhalten lassen.