Seit dem 8. Oktober 2023 ist der Libanon Schauplatz der Auseinandersetzungen zwischen Israel und dem Iran-Stellvertreter Hisbollah. Zunächst war der Konflikt mit wenigen Ausnahmen auf die Südgrenze des Landes beschränkt. Doch am 17. September 2024 kam es mit dem groß angelegten Angriff Israels auf Tausende Hisbollah-Mitglieder zur absoluten Eskalation. Heute, fast zwei Monate nach Ausbruch dieses Krieges, verschlechtert sich die Lage im Libanon aufgrund der anhaltenden israelischen Luftangriffe stetig. Über 1,2 Millionen libanesische Menschen sind auf der Flucht, mehr als 3 000 Personen wurden getötet und über 14 000 verletzt. Ein Ende ist nicht in Sicht. Das Ausmaß der scheinbar willkürlichen israelischen Angriffe ist für den Libanon beispiellos, selbst im Vergleich zu früheren Kriegen wie im Jahr 2006.
Das Land ist damit ins direkte Kreuzfeuer geraten. Doch es gibt eine politische Lösung für diesen anhaltenden zerstörerischen Konflikt, der die Stabilität im Mittleren Osten und Nordafrika und die Lebensgrundlage von Millionen Menschen bedroht. Die internationale Gemeinschaft muss sofort handeln, um die explosive Lage im Nahen Osten zu entschärfen. Die lokalen libanesischen Parteien müssen ihrerseits den Ansporn bekommen, das Land aus dem Einflussbereich des Iran heraus und in Richtung einer wirklich unabhängigen und souveränen, aber auch mit der internationalen Gemeinschaft abgestimmten Politik zu lenken.
Die internationale Gemeinschaft muss sofort handeln, um die explosive Lage im Nahen Osten zu entschärfen.
Der internationale Rahmen für eine Lösung des Konflikts wurde bereits in der Resolution 1701 des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen geschaffen. Diese wurde 2006 mit dem Ziel entworfen, den damaligen Krieg zwischen der Hisbollah und Israel zu beenden. Der libanesische Staat, vertreten durch den Parlamentssprecher Nabih Berri und den Premierminister Nadschib Miqati sowie das Kabinett und mehrere politische Parteien, hat sich bereits darauf verständigt, die UN-Resolution vollständig einzuhalten – offensichtlich mit stillschweigender Zustimmung der Hisbollah. Damit wird die Lage im Libanon aus militärischer Sicht vollständig vom Krieg in Gaza entkoppelt. Der von US-Präsident Joe Biden entsandte amerikanische Vermittler Amos Hochstein pendelt derzeit zwischen den Hauptstädten Beirut und Tel Aviv, um einen detaillierten Aktionsplan und eine Reihe von Zusicherungen sowohl für Israel als auch für den Libanon auszuarbeiten, die die rasche Umsetzung der Verpflichtungen beider Parteien garantieren sollen. Verschiedene Dokumente wurden geleakt und werden in beiden Ländern diskutiert. Die Grundlage für eine Einigung bleibt die Resolution 1701, mit einer erweiterten Rolle für internationale Streitkräfte sowie einer Schlüsselrolle für die libanesische Armee.
Allerdings nutzt die israelische Regierung ihre militärische Dominanz in den Kämpfen gegen die Hisbollah, um die eigenen Maximalforderungen zu erhöhen und die politischen Ziele auszudehnen. Ging es zunächst um die Rückkehr der Bewohner der nördlichen Regionen Israels, so ist nun das Hauptziel, die militärischen Fähigkeiten der Hisbollah zu zerstören und die Gruppe an einer erneuten Wiederbewaffnung zu hindern. Die Regierung von Netanjahu führt die Bombardierung daher fort, um dem Libanon als Staat härtere politische Bedingungen aufzuzwingen. Grund für diese Strategie sind in entscheidendem Maße die innenpolitischen Dynamiken in Israel.
Daher ist internationaler Druck auf Israel, einem Waffenstillstand und Verhandlungen über die effektive Umsetzung der Resolution 1701 des UN-Sicherheitsrats zuzustimmen, der beste und schnellste Weg nach vorne. Allerdings: Während des Krieges 2006 war es die libanesische Regierung, die die Interessen des Libanon vertrat und die Resolution 1701 des UN-Sicherheitsrats maßgeblich mit auf den Weg brachte. Im Gegensatz dazu ist die aktuelle offizielle libanesische Führung aber eine Übergangsregierung, die vom vorherigen Parlament ernannt wurde. Damit mangelt es an Legitimität. Die libanesische Regierung hat die Möglichkeit, eine Einigung zu erzielen, aber eigentlich nicht die Legitimität, diese umzusetzen. Daher ist es dringend erforderlich, dass nun ein Präsident gewählt und eine Regierung mit voller verfassungsmäßiger Autorität gebildet wird.
Die neue Regierung muss sich dazu verpflichten, die Politik des Libanon dahingehend zu ändern, dass der libanesischen Armee ein wirklich solides Monopol auf das rechtmäßige Tragen von Waffen eingeräumt wird. Anderen, nichtstaatlichen Akteuren – namentlich der Hisbollah oder palästinensischen Milizen – darf das Tragen von Waffen nicht gestattet werden. Dies ist keine leichte Aufgabe, da die Hisbollah bei ihren militärischen Entscheidungen stark vom Iran beeinflusst wird und die Fähigkeit des libanesischen Staates, die militärische Situation im Land zu kontrollieren, seit Jahrzehnten untergraben wird. Hier ist Zusammenarbeit zwischen der internationalen Gemeinschaft, die Druck auf den Iran ausüben muss, und den lokalen reformorientierten und unabhängigen libanesischen Parteien erforderlich.
Die libanesische Armee braucht Unterstützung und politische Rückendeckung, um erfolgreich zu sein.
Die libanesische Armee braucht Unterstützung und politische Rückendeckung, um erfolgreich zu sein. Tatsächlich ist sie die staatliche Institution, die unter der libanesischen Bevölkerung die größte Beliebtheit und Unterstützung genießt. Die derzeitige libanesische Regierung hat bereits ihre Bereitschaft bekundet, mehr als 10 000 weitere Soldaten zu rekrutieren, die zur Sicherung des Südens sowie der syrisch-libanesischen Grenze im Osten entsandt werden sollen. Die internationale Gemeinschaft kann sofortige Unterstützung leisten, indem sie die libanesische Armee ausbildet, ausrüstet und bewaffnet sowie Informationen über Waffenschmuggel oder Aktivitäten nichtstaatlicher Akteure auf libanesischem Boden bereitstellt. So könnten die weiterhin bestehenden Risiken eingedämmt werden. Derartige Forderungen sind bereits Teil der Resolutionen 1701 und 1559.
Die aktuelle Übergangsphase in den USA bietet sich an, um sofortige Maßnahmen in Bezug auf die oben genannten Punkte zu ergreifen. Der scheidende Präsident Biden hat allen Grund, die Situation im Nahen Osten zu entschärfen, und sein Nachfolger Donald Trump hat sich öffentlich verpflichtet, den Krieg im Gazastreifen und im Libanon zu beenden. Die internationale Gemeinschaft könnte dieses aktuelle Zeitfenster nutzen, um die Einzelheiten eines Waffenstillstandsabkommens vorzubereiten. Bestenfalls würde bei der Amtsübernahme von Trump am 20. Januar 2025 ein vollständig umsetzbarer Plan vorliegen, der von den Regierungen des Libanon und Israels sowie von der internationalen Gemeinschaft, vor allem der Europäischen Union und den arabischen Staaten, mitgetragen und unterstützt wird. Das würde es Trump erleichtern, einen ersten Teilerfolg bei seinem Ziel, den Krieg zu beenden, zu erlangen.
Genau hier kann auch Deutschland eine wichtige Rolle spielen, um zu einem solchen Ergebnis beizutragen. Das gilt insbesondere mit Blick auf die libanesische Seite: Deutschland genießt im Libanon nach wie vor ein hohes Maß an Vertrauen – auch wenn dies angesichts der Haltung der Ampelkoalition zum Krieg in Gaza und im Libanon sowie der wahrgenommenen Einseitigkeit der deutschen Führung abgenommen hat. Deutschland ist darüber hinaus einer der größten Geldgeber und leistet beträchtliche militärische Beiträge zu den UN-Truppen im Libanon. Angesichts der Beziehungen Deutschlands zu Israel und den USA könnte ein aktives deutsches Engagement daher effektiv dazu beitragen, einen Waffenstillstand zu erreichen.
Es ist höchste Zeit, dass die libanesische Bevölkerung ihre gewählten Vertreter für die Ereignisse der letzten Jahre, einschließlich des aktuellen verheerenden Krieges, zur Rechenschaft ziehen kann.
Das deutsche und internationale Engagement im Libanon kann nur erfolgreich sein, wenn es von einer klaren politischen Vision für die Zeit nach dem Waffenstillstand flankiert wird. Ein solcher Plan muss mehrere kritische Parameter berücksichtigen, sowohl in der libanesischen Innen- als auch in der Außenpolitik. Die Wahl eines neuen Präsidenten als Oberhaupt der Exekutive – und als Symbol für die Einheit des Landes – muss Priorität haben. Danach sollte ein neuer Ministerrat (eine neue Regierung) mit möglichst breiter Unterstützung der politischen Parteien im Libanon sowie der internationalen Gemeinschaft folgen. Diese Führung hat die große Aufgabe, das Waffenstillstandsabkommen wirksam umzusetzen. Darüber hinaus muss die libanesische Armee in die Lage versetzt werden, ihr Gewaltmonopol im Land durchzusetzen, die Grenzen zu sichern und das Problem von Waffenbesitz außerhalb der staatlichen Institutionen zu lösen.
Der dritte Punkt wäre, dass die Regierung und der Staatsapparat wieder in die Lage kommen müssen, Pläne für mehr soziale Stabilität aufzustellen, die Art der Regierungsführung zu reformieren, öffentliche Gesundheits-, Bildungs- und Versorgungsleistungen wie Strom und Wasser sicher bereitzustellen, die Wirtschaft und die Währung zu stabilisieren sowie die Rückkehr von 1,2 Millionen vertriebenen libanesischen plus 500 000 syrischen Menschen zu organisieren und zu bewältigen. Schließlich müssen sich die Hisbollah und andere politische Parteien dem Votum der Öffentlichkeit stellen: Für Mai 2026 sind Parlaments- und Kommunalwahlen geplant. Diese Termine müssen eingehalten werden – die Wahlen müssen stattfinden, damit die politische Erneuerung im Libanon voranschreiten kann.
Es ist höchste Zeit, dass die libanesische Bevölkerung ihre gewählten Vertreter für die Ereignisse der letzten Jahre, einschließlich des aktuellen verheerenden Krieges, zur Rechenschaft ziehen kann. Stabilität und Wohlstand im Libanon können nur erreicht werden, wenn das eigene Volk darüber entscheidet, wer es in die Zukunft führt – in eine Zukunft frei von sektiererischen und korrupten Beamten einerseits sowie blutrünstigen Milizen andererseits.
Aus dem Englischen von Tim Steins