Es war bereits der zweite gewaltvolle Zwischenfall im Norden Kosovos innerhalb der letzten sechs Monate. In der Nacht auf den 24. September legten bisher nicht klar identifizierte serbische Bewaffnete einen Hinterhalt an einer Brücke in der Gemeinde Zvečan im Norden des Kosovo. Diese wurde mit Lastwagen ohne Kennzeichen gesperrt. Kosovarische Polizisten wurden bei Ankunft der Straßensperre beschossen, ein Polizeibeamter starb, drei wurden teilweise schwer verletzt. Die Gruppe verschanzte sich im Laufe des nächsten Tages in einem nahe gelegenen serbisch-orthodoxen Kloster im Dorf Banjska, welches von kosovarischen Polizisten umstellt wurde. Bei Schießereien kamen vier der Attentäter ums Leben, acht wurden nach Presseangaben in Haft genommen, zwei in ein Krankenhaus im nahe gelegenen Novi Pazar gebracht. Die kosovarische Polizeiaktion war eng abgestimmt worden mit der Kosovo-Truppe (KFOR) – der 1999 nach Beendigung des Kosovokrieges aufgestellten multinationalen militärischen Formation unter der Leitung der NATO – sowie mit der Rechtsstaatlichkeitsmission der Europäischen Union im Kosovo (EULEX Mission).
Erst Ende Mai wurden bei einem Zusammenstoß mit serbischen Protestierenden und bewaffneten Agitatoren 30 NATO-Soldaten teilweise schwer verletzt. Während am Sonntagmorgen die Tat im Kosovo und von Seiten der kosovarischen Regierung schnell verurteilt wurde und die Verantwortung in Belgrad gesucht wurde, blieb es in der serbischen Hauptstadt zunächst ungewöhnlich still. Der serbische Präsident Aleksandar Vučić äußerte sich erst am Sonntagabend.
Auch einige Tage später ist unklar, ob es sich bei den neuen Gewalttätern um schwerbewaffnete serbische Milizionäre aus dem Norden Kosovos handelt, oder sogar um Paramilitärs aus Serbien selbst. Dass die genaue Zuordnung der Attentäter auch Tage nach den Schießereien schwerfällt, zeigt das Zusammenspiel von irregulären Elementen, nicht-staatlichen und staatlichen Akteuren sowie die Instrumentalisierung von Minderheiten im Ausland auf.
Strittig bleibt dabei auch das genaue Verhältnis der Gruppe zum stellvertretenden Vorsitzenden der nordkosovarischen serbischen Partei Srpska Lista, Milan Radojčić. Das kosovarische Fernsehen zeigte Bilder von ihm vor dem Kloster, während der serbische Außenminister die Echtheit der Bilder in Frage stellte. Viel wird außerdem darüber spekuliert, ob der Anschlag zeige, dass der serbische Präsident Vučić die Kontrolle über den Nordkosovo verloren haben könnte und dass hinter dem Anschlag ein interner Konflikt innerhalb der serbischen Regierung stecken könnte oder zwischen Vučić und Radojčić, dem Verbindungen zur organisierten Kriminalität nachgesagt werden.
Die serbische Führung spielt die ethno-nationalistische Karte.
Fest steht bereits, dass die serbische Führung nicht den Weg der Leugnung geht, sondern die ethno-nationalistische Karte spielt. Statt einige der Attentäter, welche sich in medizinischer Behandlung befinden, festzunehmen, fand drei Tage nach der Tat, am Mittwoch, ein Volkstrauertag zu Ehren der getöteten Gewalttäter statt.
Deutsche und europäische Politikerinnen und Politiker jeglicher politischer Couleur verurteilten die Attacken scharf. Allerdings wird vorerst vom Ansatz des Dialogs nicht abgewichen. Das deutsche Außenministerium ruft die Parteien dazu auf, sich ihrer Verantwortung für den Frieden bewusst zu sein. Dies aber wird der neuen Qualität des Angriffs nicht gerecht. Eine genaue, objektive und internationale Untersuchung des Vorfalls und seiner Hintergründe ist sicher notwendig. Dass die serbische Führung einen Staatstrauertag für die getöteten Gewalttäter ausrichtet, sollte jedoch mehr Kritik auf sich ziehen. Dies mahnten unter anderem der albanische Präsident Edi Rama und der Bundestagsabgeordnete Josip Juratovic an.
Der von der EU geführte Serbien-Dialog ist mit Vollgas in eine Sackgasse gerast.
Unabhängig von allen offenen Fragen zeigt der Vorfall vor allem eins: Der von der EU geführte Serbien-Dialog ist mit Vollgas in eine Sackgasse gerast. Da nun mehrere Todesfälle auf beiden Seiten zu beklagen sind, ist vollkommen unklar, inwieweit die Konfliktparteien wieder zu konstruktiven Verhandlungen, geschweige denn einem „Dialog“ zusammenfinden könnten. Dass es so weit kam, lag nicht an mangelndem internationalem Engagement, sondern an der falschen Strategie.
In dem Versuch, Serbien zu Sanktionen gegenüber Russland und – im Rahmen des Kosovo-Serbien-Dialogs – gleichzeitig zur Anerkennung Kosovos zu drängen, erhielten die diplomatischen Bemühungen zu letzterem Ziel stets das Nachsehen. Sowohl im Bereich des Agenda-Setting für die Verhandlungen als auch an der entscheidenden Stelle erhielt die serbische Forderung mehr Gewicht.
Schon die Reaktion (oder eher der Mangel einer solchen) auf den Angriff auf die NATO-Soldaten im Mai gegenüber Serbien verwunderte. Schließlich beruht die Logik der erheblich geschrumpften NATO-Kontingente in der Region stets auf Abschreckung. Für eine solche braucht es Entschlossenheit zu handeln. Diese hat die westliche Staatengemeinschaft sowohl im Herbst vergangenen Jahres – als die KFOR von serbischen Milizen errichtete Straßensperren entgegen ihres Mandats nicht räumte – als auch in diesem Jahr bei den Zwischenfällen im Mai vermissen lassen. Dass infolge der verletzten NATO-Soldaten die kosovarische Regierung von Albin Kurti und nicht die serbische Vučić-Regierung sanktioniert wurde, hat Belgrad mindestens nicht abgeschreckt, wenn nicht in seinem Gewaltexport ermutigt.
Die Eskalationsspirale dreht sich auf jeden Fall weiter.
Wenn man die Entwicklung der letzten anderthalb Jahre betrachtet, so kann man sehr genau die eskalierende Entwicklung des Einsatzes irregulärer Elemente nachvollziehen: Angefangen mit Demonstrationen, politisch durch die Partei der serbischen Minderheit im Kosovo, die Srpska Lista, organisiert, über Straßensperren mit Unterstützung lokaler organisierter Kriminalität im November 2022, über bewaffnete Agitationen im Mai dieses Jahres inklusive Beschuss von NATO-Soldaten, bis hin zum Hinterhalt und Schusswechsel mit kosovarischen Behörden nun im September, durchgeführt von Milizen und/oder Paramilitärs mit militärischer Bewaffnung. Die Eskalationsspirale dreht sich auf jeden Fall weiter.
Dabei sah es Anfang des Jahres noch so aus, als könnte der EU-geführte Dialog fruchten. Der entscheidende Moment war der Orhid-Gipfel, welcher auf Grundlage des sogenannten deutsch-französischen Vorschlags zustande kam. Die Idee des Vorschlags ist, die Beziehungen zwischen Serbien und Kosovo nach dem Modell des geteilten Deutschlands zu organisieren: Eine De-facto-, wenn auch keine De-jure-Anerkennung. Dafür hätte es aber eine klare, schrittweise Umsetzung des Abkommens gebraucht, welche in einem Implementations-Annex festgehalten wurde. Diesen wollte Serbiens Präsident Vučić jedoch nicht unterzeichnen. Statt auf dem Gesamtpaket zu beharren, wählten die EU-Unterhändler den Weg des geringeren Widerstands: Druck wird ausgeübt auf die vermeintlich kompromissbereiteren Demokraten (in diesem Fall Kurti) und weniger auf die Autokraten. Die aktuellen Ereignisse sollten Anlass geben, diese Entscheidung zu revidieren. Statt einseitig Druck auszuüben, sollte lieber auf dem diplomatischem Parkett beidseitig und bestimmt für die Umsetzung des Plans geworben werden.
Der Versuch der EU, die serbische Führung nur über Anreize zu kooperativerem Verhalten zu bewegen, ist vorerst gescheitert.
Ein neuer Ansatz ist also auf verschiedenen Ebenen notwendig. Der „See-No-Evil-Ansatz“, wie CNN unlängst titelte, tritt in einen immer offeneren Widerspruch mit deutschen außen- und sicherheitspolitischen Interessen und Werten. Die Frage ist: Wann ist das Ende der Fahnenstange für Berlin, Paris, Brüssel und Washington erreicht? Dabei hat es keinen Mangel an diplomatischen Bemühungen gegeben. Ständige Krisendiplomatie, viel Aufmerksamkeit und hohe Besuche signalisieren die Unterstützung der deutschen Bundesregierung.
Die Schlussfolgerung muss daher sein, dass es nicht nur mehr politische Aufmerksamkeit braucht, sondern schlichtweg einen Strategiewechsel. Dabei sollte auch über neue Ansätze und Formate diskutiert werden, die zu einer neuen und nachhaltigen Qualität des Friedensprozesses führen könnten, wie etwa die Idee einer internationalen Konferenz zum Neuanfang in der Kosovo-Serbien-Frage. Die von Olaf Scholz ausgerufene Zeitenwende und die von Ursula von der Leyen ausgerufene geopolitische Kommission können so interpretiert werden, dass die EU und Deutschland gemeinsam es auch vermögen sollten, in einem antagonistischen internationalen Umfeld Interessen durchzusetzen. Die derzeitige Politik der serbischen Führung, Instabilität in seine Nachbarländer zu exportieren, steht im Konflikt zu einer europäischen, auf Frieden und Sicherheit ausgerichteten Politik in Südosteuropa. Der Versuch der EU, die serbische Führung nur über Anreize zu kooperativerem Verhalten zu bewegen, ist vorerst gescheitert.
Wie es immer so schön heißt: Der erste Schritt zur Lösung eines Problems ist es anzuerkennen, dass es ein Problem gibt. Den Ansatz zu ändern, wird der deutschen Bundesregierung viel Fingerspitzengefühl abverlangen, um auf eine flexible Response-Strategie hinzuwirken und gleichzeitig die innerhalb der westlichen Staatengemeinschaft durchaus divergierenden Interessen in der Region auszutarieren (die der USA, der EU, der einzelnen EU-Nationalstaaten und jeweils ihre Prioritätenverschiebungen im Zuge des Krieges in der Ukraine). Deutschland ist aufgrund der hohen Reputation in der Region und der engen wirtschaftlichen wie gesellschaftlichen Verflechtung prädestiniert, in diesem Prozess entschiedener Führung zu übernehmen.