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Interview von Michael Bröning

Sebastian Kurz hat die Nationalratswahlen klar für sich entscheiden können. Worin sehen Sie die Ursache für diesen Erfolg?

Zu einem großen Teil in der Schwäche seiner Konkurrenten. Sebastian Kurz hat vom Ibiza-Skandal am meisten profitiert. Ihm ist es gelungen, die Wähler (es sind vor allem Männer), die sich von der FPÖ abgewandt haben, zu sich zu holen. Das zeigen auch die Analysen der Wählerwanderungen. Über 250 000 Wähler wanderten von der FPÖ zu ÖVP. Die SPÖ unter ihrer neuen Chefin Pamela Rendi-Wagner kam erst in den letzten zwei Wochen so richtig im Wahlkampf an. Sie verlor viele Wählerinnen und Wähler, die ihr Vorgänger Christian Kern 2017 von den Grünen zur SPÖ holen konnte, wieder an die Grünen. Aber natürlich hat Kurz einen sehr soliden Wahlkampf gemacht. Die Aufbauarbeit seines PR-Teams, seine eigenen Social-Media-Aktivitäten, etwa die Facebook-Seite mit 800 000 Followern, das Direktmarketing hat sich bezahlt gemacht. Kurz kann Wahlkampf führen ohne klassische Medien, alleine dank seiner Kanäle.

Die FPÖ hat sehr viel stärker verloren, als in den Umfragen vorhergesagt. Hat Ibiza für die Wählerinnen und Wähler doch eine größere Rolle gespielt?

Ibiza war ein Grund, in der letzten Woche vor der Wahl kam dann aber auch noch ein Spesenskandal auf, den die Partei nicht mehr aufklären konnte. Demnach hat Heinz-Christian Strache der Partei hohe Spesen für seine Wohnung und seine Lebensführung verrechnet. Nun droht Strache der Parteiausschluss, sollten die Vorwürfe sich bestätigen. Das hat vor allem in Wien, Straches Hochburg, sehr viele seiner Wähler demobilisiert. Beide Skandale hängen zusammen. In beiden Fällen spielt ein ehemaliger Leibwächter und Chauffeur Straches eine wichtige Rolle als Informant. Strache stolperte also nicht nur über das berühmte Ibiza-Video, sondern auch über seinen Lebensstil.

Die Grünen haben deutlich hinzugewonnen. Folgen Sie darin dem europäischen Trend oder gibt es eine spezifische österreichische Dimension?

Als die Grünen 2017 aus dem Parlament geflogen sind, kam das überraschend und hat viele grüne Stammwähler, die damals SPÖ gewählt hatten, schockiert. Die Grünen haben ihren Wahlkampf bewusst als „Wir wollen zurück ins Parlament“- Kampagne gestaltet und an ihre „verlorenen“ Wählerinnen und Wähler appelliert. Das hat gut funktioniert. Dazu kommt natürlich die generelle Stimmungslage. Umweltthemen waren - neben dem Thema Umgang mit Geld, Korruption und Ibiza - das wichtigste Thema in diesem Wahlkampf. „Sundays for Future“ war dann auch die Losung der Grünen am Wahlsonntag.

Die SPÖ hat noch einmal deutlich verloren. Dabei hatte sich ihre Vorsitzende ordentlich ins Zeug gelegt. Warum hat es nicht gereicht?

Das liegt einerseits am Erfolg der Grünen - SPÖ und Grüne sprechen ähnliche Wählerschichten an. Aber der Wahlkampfendspurt von Sebastian Kurz spielt eben auch eine Rolle. SPÖ-Chefin Rendi-Wagner hat erst in der Phase der zahlreichen TV-Duelle ihren Wahlkampfstil gefunden. Sie wurde lockerer, emotionaler, angriffslustiger und brachte selbst den sehr erfahrenen und abgebrühten Sebastian Kurz mitunter in die Defensive. Hätte der Wahlkampf ein, zwei Wochen länger gedauert, wäre vermutlich noch einiges an Stimmen für die SPÖ zu holen gewesen. Und natürlich hat die SPÖ eine größere Parteireform noch vor sich, eine charismatische Spitzenkandidatin alleine reicht nicht. Der Kärntner Landeshauptmann Peter Kaiser (SPÖ) formulierte es so: die SPÖ sei eine der strukturkonservativsten Parteien des Landes.

Kurz hat jetzt die Qual der Wahl: für welchen Koalitionspartner wird er sich entscheiden? Oder setzt er auf eine Minderheitsregierung?

Die ÖVP hat eine Mehrheit mit der FPÖ, der SPÖ und den Grünen. Die FPÖ hat gleich am Wahlabend ausgeschlossen, wieder regieren zu wollen, sie fällt also weg. In der SPÖ ist die Stimmung sehr ambivalent. Lieber konzentriert man sich auf eine Neuaufstellung, eine Parteireform. Bleiben also die Grünen. Die sind prinzipiell regierungswillig und auch pragmatisch genug geworden, Kompromisse einzugehen, aber sie werden es Kurz sicherlich nicht so einfach machen wie die FPÖ in der Regierung.

Mit ihnen müsste sich Kurz nun erstmals auch inhaltlich klarer positionieren, etwa als pro-europäischer Öko-Kanzler. Er ist wandlungsfähig und marketingstark genug, um das hinzukriegen. Aber ganz so komfortabel ist das stolze Wahlergebnis für Kurz am Ende also nicht. In Wien wird deshalb noch die Variante einer Minderheitsregierung diskutiert. In der politischen Kultur Österreichs ist sie kaum verankert. Erst einmal, 1970, hatte die SPÖ mit Duldung der FPÖ für ein Jahr eine solche Regierung gewagt. Zum Gück, heißt es in Wien dieser Tage oft, gibt es das beliebte Beamten-Übergangskabinett, das nach Ibiza vom Bundespräsidenten eingesetzt wurde. Die Koalitionsverhandlungen können also ohne Not ein wenig länger dauern.