Die Fragen stellte Alexander Isele.
Israel und die Hisbollah haben sich auf einen Waffenstillstand verständigt. Mit der Hamas gibt es hingegen kein solches Übereinkommen. Wie ist die aktuelle Situation in Gaza?
Die Situation in Gaza ist schlichtweg katastrophal. Die humanitäre Krise hat ein Ausmaß angenommen, das in der jüngeren Geschichte beispiellos ist. Tausende wurden getötet oder verletzt, unzählige Menschen sind noch immer unter Trümmern begraben und ganze Stadtviertel liegen in Schutt und Asche. Über 90 Prozent der Bevölkerung von Gaza wurden vertrieben. Die Menschen leiden unter Hunger, es fehlt ihnen an sauberem Wasser und sie haben keinen sicheren Zufluchtsort. Gaza ist praktisch unbewohnbar, die Grundversorgung und die Infrastruktur sind zerstört.
Das volle Ausmaß der Zerstörung und des Leids wird erst nach dem Krieg deutlich werden, wenn humanitäre Organisationen Zugang zum Gazastreifen haben und die Lage umfassend beurteilen können. Doch schon jetzt ist klar, dass die Verwüstung immens ist und für die lokale Bevölkerung und ihre Zukunft noch lange Zeit spürbare Nachwirkungen haben wird.
Wie sieht es im Westjordanland aus?
Die Lage im Westjordanland ist ebenfalls sehr besorgniserregend, wenn auch anders geartet als in Gaza. Die Verletzung der Rechte der palästinensischen Menschen in der Westbank ist nichts Neues: Sie dauert seit Beginn der israelischen Besatzung im Jahr 1967 an. Allerdings haben diese Rechtsverletzungen in letzter Zeit zugenommen. Verantwortlich dafür sind sowohl die israelischen Besatzungstruppen als auch israelische Siedler in den illegalen Siedlungen. Die Siedler strotzen vor Selbstbewusstsein, weil sie Teil der Koalitionsregierung von Premierminister Netanjahu sind, und scheinen weitgehend ungestraft agieren zu können. Schlüsselfiguren wie Minister Bezalel Smotrich treten offen für eine Annexion ein. Er hat kürzlich erneut betont, die Siedlungen ausbauen und noch mehr Land beschlagnahmen zu wollen, um die Vision eines „Groß-Israels“ zu verwirklichen.
Diese von radikalen Siedlern vorangetriebene Politik missachtet das Völkerrecht und die Rechte der palästinensischen Menschen vor Ort. Sie schafft ein Umfeld, in dem Palästinenserinnen und Palästinenser täglicher Gewalt, Landraub und systematischen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind. Die Rhetorik und Politik auf den höchsten Regierungsebenen Israels verschärfen die Situation weiter. Den palästinensischen Menschen im Westjordanland drohen daher weitere Verstöße gegen das Völkerrecht und noch mehr Vertreibung und Enteignung.
Kann es trotz allem noch eine Zweistaatenlösung geben?
Die Zweistaatenlösung ist heute schwieriger zu erreichen als je zuvor, aber sie bleibt der einzige gangbare Weg zu einem gerechten und dauerhaften Frieden. Ich glaube fest an diese Lösung und kann sagen, dass die Mehrheit der internationalen Gemeinschaft, einschließlich Deutschlands und sogar der USA, sich weiterhin dafür einsetzt. Das liegt daran, dass die Alternativen – ob ewiger Konflikt oder eine Einstaatenlösung – schlichtweg unhaltbar und nicht realisierbar sind. Allerdings erschwert die derzeitige Lage die Sache erheblich: Durch das Vorgehen Israels, dass Siedlungen ausgebaut und damit neue Fakten vor Ort geschaffen werden, wird die Aussicht auf eine Zweistaatenlösung immer ungünstiger. Mit einem aufrichtigen politischen Prozess können die Probleme aber trotzdem noch angegangen und bewältigt werden.
Was müsste die Palästinensische Autonomiebehörde ihrerseits tun?
Die Palästinensische Autonomiebehörde arbeitet aktiv mit der internationalen Gemeinschaft zusammen, um auf die dringende Notwendigkeit der Schaffung eines palästinensischen Staates hinzuweisen und die Gefahren und Probleme zu thematisieren, die sich aus dem Fehlen eines solchen Staates ergeben. Ein wichtiger Schritt ist unsere Zusammenarbeit mit der von Saudi-Arabien geführten globalen Allianz, die sich für die Zweistaatenlösung einsetzt. Diese Allianz, der etwa 90 Länder und Organisationen angehören, ist eine wichtige Plattform für die Mobilisierung internationaler Unterstützung. Der beträchtliche politische Einfluss Saudi-Arabiens in der arabischen Welt und darüber hinaus verleiht dieser Initiative substanzielles Gewicht. Das erhöht das Potenzial der Initiative, wirklichen Fortschritt zu erzielen.
Der andauernde völkermörderische Krieg in Gaza macht die Notwendigkeit einer gerechten und umfassenden Lösung unter Achtung der Rechte und der Würde der Palästinenserinnen und Palästinenser deutlich. Die Gründung eines von den Vereinten Nationen anerkannten palästinensischen Staates ist nach wie vor von zentraler Bedeutung, damit dieses Ziel erreicht werden kann. Es ist unerlässlich, dass sich die Welt hinter diese Sache stellt. Nur so kann sichergestellt werden, dass Frieden und Gerechtigkeit für das palästinensische Volk herrschen.
Was müsste die Palästinensische Autonomiebehörde tun, um einen erneuten 7. Oktober zu verhindern?
Die Frage müsste eher lauten: Was muss Israel tun, um einen erneuten 7. Oktober zu verhindern? Angriffe wie am 7. Oktober sowie der anhaltende Teufelskreis der Gewalt können nur verhindert werden, wenn die Besatzung ein Ende hat. Der 7. Oktober 2023 ist nicht aus dem Nichts entstanden – er ist die Folge von Jahrzehnten der Unterdrückung, der Besatzung, systematischer Rechtsverletzungen, der Gaza-Blockade sowie der Armut und Entbehrung, die dem palästinensischen Volk aufgezwungen wurden.
Ohne eine echte und nachhaltige Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts und ein Ende der Besatzung bestehen die grundlegenden Bedingungen, die zu diesem tragischen Ereignis geführt haben, fort. Deswegen nochmals: Die einzige tragfähige Lösung ist die Gründung eines palästinensischen Staates, der in Frieden und Sicherheit neben Israel existiert, mit gegenseitigem Respekt für die Grenzen und die Souveränität des jeweils anderen Staates. Nur mit einem solchen Rahmen können wir den Kreislauf der Gewalt durchbrechen und eine Zukunft der Koexistenz und Stabilität schaffen.
Welche Rolle würde die Hamas in einem solchen palästinensischen Staat spielen?
Die Hamas ist ein integraler Bestandteil der palästinensischen Gesellschaft, aber damit sie eine legitime Rolle in der Politik eines zukünftigen palästinensischen Staates spielen kann, muss sie die Rahmenbedingungen der Palästinensischen Befreiungsorganisation einhalten. Die PLO hat diverse internationale Vereinbarungen und Verpflichtungen geschlossen – auch mit Israel –, die die Hamas akzeptieren müsste. Sobald die Hamas sich bereit erklärt, im Rahmen dieses PLO-Mandats zu agieren, unterliegt sie denselben politischen Prozessen und Verpflichtungen wie die anderen Mitglieder der Organisation. Sie darf nicht unabhängig und außerhalb dieser breiteren politischen Struktur agieren. Nur durch ihre eigene Einbindung in das PLO-Mandat kann die Hamas zur Gestaltung einer kollektiven politischen Vision für die Zukunft Palästinas beitragen.
In Syrien wurde das Assad-Regime gestürzt. Das wird Auswirkungen auf den gesamten Nahen Osten haben. Was bedeutet dies für den palästinensischen Kampf für einen eigenen Staat?
Zunächst einmal stehen wir an der Seite des syrischen Volkes und hoffen, dass die Zukunft ihm den ersehnten Frieden und Stabilität bringen wird. Die Lage in Syrien ist komplex, da die Opposition nicht geeint ist. Es ist wichtig, dass sie zusammenfindet, um gemeinsam zu entscheiden, wie Syrien als Staat bewahrt werden kann. Ein erfolgreicher Übergang zur Demokratie ist für die Stabilität der Region von entscheidender Bedeutung. Wenn jedoch die internen Konflikte und die Gewalt weiter eskalieren, wird dies nicht nur Auswirkungen auf Palästina, sondern auf die gesamte Region haben. Die Instabilität in Syrien hat weitreichende Folgen, und jeder Konflikt dort kann sich auf den Kampf des palästinensischen Volkes um Eigenstaatlichkeit auswirken sowie die Bemühungen um Frieden und Stabilität weiter erschweren.
Was sollte die Bundesrepublik Deutschland tun, um Fortschritte hin zu einer Zweistaatenlösung zu unterstützen?
Deutschland hat stets sein Bekenntnis zum Völkerrecht, einschließlich der Achtung internationaler Gerichte und UN-Resolutionen, bekräftigt. Um die Zweistaatenlösung voranzutreiben, muss Deutschland die im von der UN angenommenen Urteil des Internationalen Gerichtshofs dargelegten Grundsätze einhalten. Deutschland muss zusammen mit anderen europäischen Staaten und internationalen Akteuren konkrete Maßnahmen für ein Ende der Besatzung ergreifen oder sich zumindest in diese Richtung bewegen.
Darüber hinaus sollte Deutschland seine wichtige Rolle bei der Bereitstellung von Entwicklungs- und humanitärer Hilfe fortsetzen. Als eines der führenden Geberländer steht Deutschland bei der Unterstützung von Projekten in diesem Bereich an vorderster Front, gerade auch in Palästina. Da der Druck auf das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, UNRWA, zunimmt und dessen Arbeit gleichzeitig wichtiger ist denn je, ist die fortgesetzte Unterstützung Deutschlands von größter Bedeutung – insbesondere in der kommenden Phase, in der umfangreiche Bemühungen erforderlich sein werden, um den Gazastreifen wiederaufzubauen und den wachsenden humanitären Bedarf zu decken.
In dieser Hinsicht dürfte auch die Rückkehr Donald Trumps ins Weiße Haus eine Rolle spielen. Was bedeutet seine erneute Präsidentschaft für den Nahen Osten?
Wenn Donald Trump einen sicheren Nahen Osten will und Frieden vermitteln möchte, muss er die Rechte des palästinensischen Volkes anerkennen. Er kann diverse Friedensabkommen vorschlagen – aber damit ein Abkommen nachhaltig ist, müssen die im Völkerrecht verankerten Rechte der Palästinenserinnen und Palästinenser gewahrt werden. Dazu gehört die Gründung eines palästinensischen Staates basierend auf den Grenzen von 1967. Ohne diese Voraussetzung fehlt jedem Friedensabkommen die Grundlage für langfristige Stabilität und Gerechtigkeit.
Aus dem Englischen von Tim Steins